Techno der Jaguare
der Gegenstand in ein Tier und schließlich wieder in einen Menschen.
***
»Ich mache das schon seit meiner Kindheit. Mit sieben bin ich erblindet. Das, was ich vorher gesehen habe, forme ich seitdem in Ton.« Alexander verstummte wieder.
Lisa wusste, dass er ein schwieriger Gesprächspartner war, aber in der Begeisterung, dass sie dieses Exklusivinterview bekommen hatte, war sie fest von ihrem Erfolg überzeugt, und sie erhoffte sich davon neben einer anständigen Vergütung auch einen Karriereschub.
Ihre Strategie hatte sie sich schon im Flugzeug zurechtgelegt. Während der ganzen Reise schaute sie sich jedes seiner Werke immer wieder an. Vom Flugzeug aus stieg sie gleich in den Zug, der zu der Blindenschule fuhr. Lisa war auf der Suche nach einem Aufhänger, doch sie fand dort nichts, was sie nicht schon vorher gewusst hätte. Vor ihrer Weiterreise machte sie noch ein paar Fotos, unter anderem von der Tafel, die am Gebäude befestigt war und auf der stand, dass hier ein weltberühmter moderner Bildhauer zur Schule gegangen sei, den seine Mitschüler den ›kleinen Michelangelo‹ genannt hätten.
Bis zum Hotel brauchte der Bus über eine Stunde. Durch das Fenster sah sie Straßen, die ihr vertraut vorkamen, kleine Cafés, Parkanlagen und die niedrigen Häuser, die sie aus ihrer Kindheit kannte. Angesichts des nicht enden wollenden Panoramas, das sich ihr beim Blick aus dem Fenster bot, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Und da war sogar eines dieser International Colleges, genau wie das, wo sie ihren Abschluss gemacht hatte, und sie dachte zurück an ihre Studienzeit.
Damals waren gerade Tattoos aufgekommen. In ihrem Freundeskreis war Lisa die Erste, die davon sprach. Sie war erst sechzehn.
»Ich lass mir eins machen«, sagte sie und nahm einen Schluck von ihrem Bier.
»Und wohin? …« – »Was für eins denn? …« – »Tut das nicht weh? …« – »Und was, wenn es dir irgendwann nicht mehr gefällt?«, bestürmten sie die Mädchen, die mit ihr zusammen auf dem Gras lagen.
»Ich rasier mir den Kopf und lass es darauf machen. Und wenn’s mir dann nicht mehr gefällt, lass ich mir einfach wieder die Haare wachsen …«, erwiderte Lisa und fuhr sich mit der Hand durch den zerzausten, von gefärbten Strähnen durchzogenen Schopf.
»Auf dem Kopf?«, fragte eines der Mädchen mit aufgerissenen Augen.
»Bist du verrückt?!«, stimmten die anderen ein und richteten sich auf.
Nur ein Mädchen blieb im Gras liegen, blies Rauchringe in die Luft und grinste süffisant:
»Wozu den Kopf rasieren? Dafür gibt’s doch auch andere Stellen …«
Alle kicherten. Die Mädchen legten sich wieder hin und lachten immer lauter, als sie sich diese Prozedur in ihren Einzelheiten ausmalten.
»Und was lässt du draufschreiben? Roberto oder Michele? Du und deine Italiener …« Sie konnten sich kaum halten vor Lachen. »Du solltest lieber was Cleveres draufschreiben … einen weitverbreiteten Namen … sonst sind zu viele beleidigt …«, kicherte die Raucherin und aschte in die leere Bierflasche.
Auf das Bier folgten erst der Spirituosenladen und dann das Tattoo-Studio, das 24 Stunden geöffnet hatte. Sie ließ sich das Tattoo entlang der Wirbelsäule stechen, vom Nacken bis ganz nach unten zum Steißbein. Als sie sich auf den Tisch legte, konnte sie sich noch nicht vorstellen, wie ihr Körper nach dieser mehrstündigen Tortur aussehen würde. Die Buchstaben wurden ihr mit Nadeln unter die Haut gestochen. 26 Buchstaben, von A bis Z. Als sie im Morgengrauen aufstand, musterte sie ihre geschundene Haut, das vertikale, im Spiegelbild verkehrte, tätowierte Alphabet und zog zufrieden ihr Oberteil an.
»Jetzt ist es ja egal, mit wem du zusammen bist. Da kann jetzt jeder seine Initialen finden«, sagte ihre Freundin, die zwischendurch geschlafen hatte, belustigt, während sie sich die Augen rieb.
»Stimmt. Aber vorerst kann ich erst mal nicht auf dem Rücken liegen … wenigstens für eine Weile …«, kicherte sie nun selber.
***
»Wenn Sie eine neue Skulptur anfangen, wissen Sie dann schon im Voraus, was es wird, oder erkennen Sie das erst nach und nach?«, fragte Lisa.
»Ich sehe meine Figuren, noch bevor ich anfange, an ihnen zu arbeiten«, antwortete der Künstler kurz und prägnant.
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Alexander hatte schnell heraus, dass es vor allem darauf ankam, selbst an seine Lüge zu glauben. Das Ausblenden von Farben, Konturen und Formen fiel ihm jedenfalls leichter als das Lesen und Schreiben.
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