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Techno der Jaguare

Techno der Jaguare

Titel: Techno der Jaguare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manana Tandaschwili , Jost Gippert
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Interesse stießen. Dieser Erfolg war es, der ihn in der Schule weiterkommen ließ, da die Lehrer nun über seine fehlenden Lese- und Schreibkenntnisse hinwegsahen.
    Es gab nur zwei Internate für Blinde in der Gegend. Alexanders Schule galt als musterhaft. Hauptsächlich deshalb, weil die Eltern alle drei Monate einen Bericht über die Entwicklung ihrer Kinder erhielten und ihnen anbei, als Beweis für den Fortschritt, deren neueste Produkte – Bastelarbeiten oder auch selbst gebackenes Brot – mitgeschickt wurden. So fand sich auch Alexanders Mutter allmählich damit ab, dass ihr Kind blind war, und sie dachte nicht mehr viel darüber nach, wenn man davon absieht, dass sie die Kosten für das Internat aufzubringen hatte. Alexander selbst aber schwieg. Er schwieg und vergaß, dass er sehen konnte. Er sah den Tag, die Nacht, die blinden Mitschüler, sogar vieles, was er nicht hätte sehen sollen: das überschrittene Haltbarkeitsdatum der Säfte und Milchprodukte, die den Kindern vorgesetzt wurden (so etwas hatte seine Mutter nicht einmal gekauft, als es ihnen finanziell sehr schlecht ging); oder den Lehrer, den nie jemand verdächtigt hätte, das Geld aus der Schulkasse gestohlen zu haben, wofür zwei Betreuer und zwei Putzfrauen entlassen wurden.
    ***
    »Was würden Sie denn am liebsten noch einmal sehen? Was vermissen Sie am meisten?«, begann Lisa mit ruhiger Stimme, als Alexander sie in seinem Büro, einem großen, ungewöhnlichen Raum, empfing.
    »Die Menschen … Das Interessanteste auf dieser Welt sind doch immer noch die Menschen.« Der Bildhauer schien heute etwas besser gelaunt zu sein.
    »Denken Sie dabei an bestimmte Menschen?«
    »Auch … Nehmen wir zum Beispiel Sie«, sagte er unvermittelt.
    Lisa wurde in diesem Moment bewusst, dass sich nur wenige Menschen hier im Haus befanden, alles Männer.
    »Ich rieche Ihr Parfum, höre Ihre Stimme und spüre Ihre Reaktion, wenn ich Ihnen keine zufriedenstellende Antwort gebe.« Alexander lächelte kaum merklich. »Aber ich weiß nicht, wie Ihre Augen geformt sind, wie hoch Ihre Stirn ist, wie voll Ihr Haar ist, wie rund Ihr Gesicht ist, oder Ihr Kinn … das Kinn ist sehr wichtig … die Nase … der lange, schlanke Hals … die Taille … die Beine … Das Äußere eines Menschen ist nicht nur eine abstrakte Form, die ohne Inhalt existieren kann.« Er schlug die Beine übereinander. »Jetzt zum Beispiel kann ich spüren, dass Sie angespannt sind und den Atem anhalten, Ihr Zwerchfell steht still, die Luft staut sich in Ihrer Lunge.« Alexander hatte beide Hände gehoben und zeichnete mit ihnen Formen in die Luft. »Keine Angst! Es wird nichts geschehen, was Sie nicht wollen.«
    Lisa hörte ihm gebannt zu. Sie wusste nicht mehr, ob echtes Vertrauen in ihr wuchs oder ob einfach ihr Alarmsystem versagte. Ihr Inneres wurde von einem merkwürdigen Gefühl von Ehrfurcht überschwemmt, die sie vor diesem Mann empfand.
    »Sie wollten doch meine Werkstatt sehen, vielleicht auch den Schaffensprozess beobachten. Wenn das noch immer Ihr Wunsch ist, werde ich es Ihnen gestatten. Sie können sogar selbst teilnehmen.« Alexander legte einen Finger auf seine geschlossenen Lippen. »Ich möchte Sie als Modell.«
    Skeptisch runzelte Lisa die Stirn und schob ihren Kopf vor, als hätte sie nicht recht verstanden.
    »Nur für zwei oder drei Tage. Wenn Sie sich dafür entscheiden, mir Modell zu stehen, können Sie nicht nur das Interview zu Ende bringen, sondern bekommen auch noch exklusives Bildmaterial. Sie wären die Erste, die meine beiden noch unvollendeten Werke zu sehen bekommt.«
    »Ich?«, hakte Lisa nach. »Und die Uhr? Werden Sie mir auch die Uhr zeigen, die auf dem Marktplatz aufgestellt werden soll?«, fragte sie noch irritierter.
    »Die Uhr? Gut, die zeige ich Ihnen auch. Aber fotografieren dürfen Sie sie nicht, das kann ich Ihnen leider nicht erlauben.«
    Eine Wand des Büros war aus buntem Glas, die Möbel bestanden aus Bücherstapeln. Als Tisch diente ein kompakter Haufen Bücher, der von einem Glasgehäuse umschlossen war. Ähnlich der Sessel, nur dass hier anstelle von Glas eine Hülle aus durchsichtigem Plastik die Bücher zusammenhielt und einige bunte Kissen auf der Sitzfläche drapiert waren. Auch der Fernseher stand auf einem Stapel aus Büchern. Verwundert sah sich Lisa in dem Zimmer um, als ob ihre Antwort auf Alexanders Vorschlag in den zweckentfremdeten Büchern zu finden wäre. Durch die bunten Scheiben der Glaswand ergossen sich gebrochene

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