Techno der Jaguare
Sonnenstrahlen in den Raum.
»Ich erwarte Sie morgen um dieselbe Uhrzeit. Überlegen Sie es sich … Natürlich würden Sie eine Aufwandsentschädigung erhalten. Siebzig Euro die Stunde.« Etwas zu schnell für einen Blinden stand Alexander auf und verließ das Büro.
Diesmal begleitete niemand Lisa hinaus. Leise schloss sie das Tor hinter sich. Sie wusste selbst nicht, warum sie auf Zehenspitzen ging. Gedankenversunken lief sie die kaum befahrene Straße hinunter. Das wäre natürlich was, wenn sie ihr Exklusivinterview mit Fotos von den Werken, an denen Alexander arbeitete, illustrieren könnte. Aber was für eine Sensation wäre es erst, wenn sie der Redaktion schon eine Beschreibung der Uhr liefern könnte, noch bevor diese auf dem Marktplatz enthüllt wurde. Aber war das wirklich den Aufwand wert, den es sie kosten würde?
Tief in ihrem Inneren freute sich Lisa über Alexanders Interesse an ihr. Die Muse eines der bekanntesten Bildhauer zu sein war doch wirklich schmeichelhaft. Als sie die Treppe zur U-Bahn-Station hinunterging, war sie fest entschlossen, ihm am nächsten Morgen Modell zu stehen.
Auf dem Bahnsteig überkam sie Müdigkeit. Auf die für sie typische Art lehnte sie sich in den Sitz und schaute auf den bunten Fahrplan an der Wand. Rote, grüne, violette und blaue Linien liefen teils parallel zueinander, teils kreuzten sie sich, um dann wieder, jede in eine andere Richtung, auseinanderzulaufen. Bis jetzt war Lisa immer in die rote Linie gestiegen. Nun sah sie mit zusammengekniffenen Augen auf die violette Linie, die ebenfalls zu ihrem Hotel fuhr. Sie konnte sich nicht entscheiden, welche Linie sie nehmen sollte, welche für sie vorteilhafter wäre, die violette oder die rote. Schließlich entschied sie sich für die violette.
Als sie wieder an die Oberfläche trat, wurde sie von einer herbstlich-kühlen Brise empfangen. Langsam schlenderte sie an den Läden vorbei. In den Schaufenstern standen ideal proportionierte, kopflose Schaufensterpuppen. Einige trugen anstelle des Kopfes gleich eine Mütze.
Die angenehme Vorstellung, die Inspiration für einen bedeutenden Künstler zu sein, begann sich plötzlich zu verflüchtigen, und ihr eigener Körper schien ihr nur mehr eine gewöhnliche Gussform zu sein, mit deren Hilfe man eine neue, leblose Form goss.
Positive und negative Empfindungen wechselten sich ab, bis ihr endlich eine unangenehme Konsequenz bewusst wurde. Für einen blinden Bildhauer Modell zu stehen hieß nichts anderes, als dass sie einem Fremden gewährte, ihren Körper abzutasten.
Lisa hatte sich ihre Männer stets selbst ausgesucht. Verpflichtungen und erzwungene Beziehungen konnte sie nicht ausstehen. Alexanders Angebot verlor langsam seinen Reiz. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte dieses Angebot nicht als Gegenleistung, sondern einfach nur so, aus freien Stücken annehmen können. Sie fühlte sich in die Enge getrieben, und ihre Stimmung schlug nun vollends um.
An diesem Abend hatte Lisa keinen Hunger. Sie legte sich ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Auf ihrem zusammengekauerten Körper krümmte sich das Alphabet. Die Buchstaben spannten sich auf der höckerigen Linie ihrer Wirbelsäule … Sie schlief ein.
Als es hell wurde, stand Lisa vor dem Spiegel und überlegte, was sie anziehen sollte. Sie hatte beschlossen, das Angebot abzulehnen. Die Vorstellung, ihren Körper den Betastungen des Künstlers auszuliefern, ging ihr auch unter der Dusche nicht aus dem Kopf. Intensiver als sonst seifte sie sich mit ihrem aromatischen Duschgel ein und cremte dann ihren noch feuchten Körper sorgfältig mit einer frisch duftenden Körperlotion ein.
Als sie die morgendliche Prozedur beendet und noch etwas Parfum aufgetragen hatte, war es immer noch reichlich früh. Fertig angezogen setzte sie sich auf den Bettrand, unentschlossen, was sie tun sollte. Wenn sie Alexanders Angebot wirklich ablehnte, hätte sie keinen Grund mehr, in der Stadt zu bleiben, und würde mit beinahe leeren Händen in die Redaktion zurückkehren. Sie hatte nur ein paar trockene Antworten und die Fotos aus der Blindenschule.
Sie schaltete den Laptop ein und schaute in ihr privates E-Mail-Postfach, das sie seit Tagen nicht mehr geöffnet hatte. Sie fand fünf ungelesene Mails vor.
»Lisa, ich muss mit dir reden. Ich träume jede Nacht von dir. Bitte, wir müssen uns treffen.«
»Lisa, warum antwortest du nicht? Ich war heute bei dir in der Redaktion, aber du warst nicht da. Wahrscheinlich haben
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