Techno der Jaguare
Außerdem ist sie gerade wieder auf Diät und wird uns wahrscheinlich sowieso alle auffressen. Also, du weißt Bescheid. Viel Erfolg!!! Schreib mir, sobald du kannst.«
Entnervt klappte sie den Laptop zu. Dann öffnete sie ihn wieder und versuchte, sich auf einen ihrer anderen Artikel zu konzentrieren, den sie vor kurzem angefangen hatte. Auch hier ging es um Menschen mit Behinderung, und zwar um eine ganz besondere Form der Behinderung. Eine, über die kaum jemand sprach oder schrieb, und auch zuverlässige Statistiken waren nicht vorhanden … Da wartete noch ein Haufen Arbeit auf sie … Hier waren nicht nur die Institutionen zu kritisieren, sondern sie musste auf die Ignoranz und die Untätigkeit der Regierung aufmerksam machen …
Bald merkte sie, dass sie sich jetzt mit keinem anderen Thema beschäftigen konnte. Sie rieb sich die Augen, es fiel ihr schwer zu glauben, dass ihre ganze Arbeit vergebens gewesen sein sollte. Dabei konnte sie sich die Aggressivität des Bildhauers überhaupt nicht erklären. Im Fenster sah sie ihr Spiegelbild, und ihr fiel auf, dass sich ihre Brustwarzen deutlich durch das dünne Oberteil abzeichneten. Sie stand auf und schaute an sich herab. Dann lief sie zum Spiegel und stellte fest, dass ihr Oberteil tatsächlich ziemlich durchsichtig war.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Der Kajal war unter den Augen verschmiert. Das Handtuch, auf dem sich zwei schwarze Flecken abzeichneten, warf sie achtlos auf den Boden. Sie wühlte in ihrer Tasche. Aus der Liste in ihrem Handy suchte sie die Nummer von Alexanders Agenten heraus. Sie entschuldigte sich für den späten Anruf und redete auf ihn ein, dass es unbedingt nötig sei, noch einmal mit dem Künstler zu sprechen, da es noch bestimmte Details zu klären gebe. Zuerst weigerte er sich, ihr Alexanders Nummer zu geben, aber Lisa erklärte ihm geduldig, dass in der Aufnahme an einigen Stellen nur ein Rauschen zu hören sei und dass es wohl für beide Seiten wichtig sei, dieses Interview korrekt zu vervollständigen. Damit konnte sie ihn endlich überzeugen.
»Ich bin es, Lisa, die Journalistin.« Die Stimme des Künstlers hatte sie etwas nervös gemacht. »Verzeihen Sie, dass ich Sie so spät noch störe … Es tut mir sehr leid, was vorgefallen ist … Allerdings habe ich nicht ganz verstanden, was Sie so verärgert hat … Anscheinend habe ich etwas falsch gemacht … Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen …«
»Entschuldigen? Wofür?«, unterbrach Alexander sie kühl.
»Ich weiß nicht. Hatten Sie vielleicht ein Problem mit meinen Fragen? Oder vielleicht hat Ihnen ja mein Stil missfallen? … Es ist mir sehr unangenehm …«
»Was wollen Sie damit sagen …«, brauste er auf.
Der Satz »Vielleicht hat Ihnen ja mein Stil missfallen« ging ihm gegen den Strich. Lisas ungewöhnlicher Brief, in dem sie das Wort ›Uhr‹ erwähnte, und noch viel mehr ihr ausgefallenes Tattoo raubten ihm jetzt schon den Schlaf.
»Bitte denken Sie nicht, dass das Absicht war …« Jetzt redete sie wie ein Wasserfall. »Ich wollte wirklich nicht, dass es so endet … Ich kann mir schon vorstellen, was für einen Eindruck ich hinterlassen habe …« Sie sprach sehr schnell, lief dabei im Zimmer auf und ab und dachte kaum noch darüber nach, was sie sagte, in der festen Absicht, eine Chance zu ergattern, um das Interview doch noch zu bekommen.
»Wofür entschuldigen Sie sich dann überhaupt?« Alexander konnte seinen Ärger kaum verbergen.
Lisa hörte auf, hin und her zu laufen. Eine peinliche Stille breitete sich aus. Lisa begriff, dass sie nur eine sehr vage Vorstellung von Blinden hatte … Sie war überzeugt davon, dass Alexander mit seinem besonders ausgeprägten sechsten Sinn ihre Blöße irgendwie gespürt haben musste. Aber gleichzeitig kam ihr diese Vorstellung völlig absurd vor, weshalb sie ihn nicht darauf ansprach.
»Worüber haben Sie sich denn geärgert?« Lisa setzte sich auf das Bett.
»Machen wir morgen damit weiter«, murmelte er ins Telefon.
»Um wie viel Uhr?« Sie sprang wieder auf.
»Um neun.« Er legte auf.
***
Innerhalb nur weniger Jahre hatte er sich so sehr an die Blindenschule gewöhnt, dass er sich kaum noch auf die Sommerferien freute. In der Schule fühlte er sich viel sicherer und geborgener als zu Hause. Auch mit seinen Mitschülern verstand er sich recht gut. Ungerührt ließ er die Schulausstellungen über sich ergehen, auf denen seine Werke gezeigt wurden, die allseits auf großes
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