Techno der Jaguare
meinte, in den Bewegungen des hinter ihr stehenden Mannes etwas Gefährliches und Heimtückisches zu erkennen.
»Ich brauche eine Pause, wo ist das Bad?«, fragte Lisa hastig und glitt von dem Bücherstapel.
Alexander ließ von ihr ab.
»Einen Stock tiefer, am Ende des Flurs.«
Erst am Abend, zurück im Hotel, als sie sich die Aufnahme auf ihrem Diktaphon anhörte, sollte Lisa etwas Überraschendes feststellen: Alexander hatte gesungen. In der Werkstatt hatte sie das nicht gehört, anscheinend hatte er nur gesungen, während sie im Bad war.
Wieder in der Werkstatt ging sie furchtlos am Terrarium vorbei und setzte sich auf den ›Hocker‹. Kurz nach ihr kam ein Diener in die Werkstatt und brachte Kaffee, Saft und Wasser.
»Die nächsten Fragen können Sie mir stellen, ohne dass Sie stillsitzen müssen, einfach so, ›italienisch‹«. Alexander lachte. »Wir machen zehn Minuten Pause.«
Lisa stand auf, trank zuerst etwas Wasser, dann Saft, und nutzte gleichzeitig ihre Bewegungsfreiheit, um ein paar Fotos von der Werkstatt zu schießen.
»Vielleicht könnten Sie mir ja jetzt Ihre Skulpturen zeigen, während wir Pause machen«, schlug sie vor.
Die Uhr beeindruckte Lisa am meisten. Sie bestand aus zwölf Menschen, Männern und Frauen, die sich an den Händen fassten und aus deren naturalistisch gestalteten Körpern Lebendigkeit und Seele sprachen. Die Figuren unterschiedlichen Alters, jede mit ihrem eigenen Gefühlsausdruck ausgestattet, bildeten einen beweglichen Kreis, in dem sie die wie Schlangen geformten Zeiger umrundeten, wobei sie den Schlangen mal näher kamen und sich dann wieder weiter von ihnen entfernten. Jede Figur hatte eine Zahl auf den Rücken geladen, als trüge sie ein Kreuz, von 1 bis 12. Durch die jeweilige Stellung der Figuren ließ sich, mit leichter Ungenauigkeit, die Uhrzeit ablesen. Eine Weile betrachtete Lisa das Werk stumm, dann sagte sie:
»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll … Das ist einfach überwältigend.« Fasziniert blickte Lisa auf die Figuren. »Jeder hat seine eigene Last zu tragen, und früher oder später ist es für jeden von uns an der Zeit … Wenn wir zum Zeiger gelangen …« Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. »Entweder ist es an der Zeit, oder sie läuft ab …«, fügte sie gedankenverloren hinzu und bemerkte erst jetzt, dass die Zeiger Schlangen waren. »Diese Komposition weckt so viele Emotionen … Kann ich ein Foto machen, nur für mich? Ich verspreche, es niemandem zu zeigen …«
Sie bekam keine Antwort.
»Sie können mir vertrauen. Diese Skulptur ist viel mehr wert als jedes Exklusivinterview oder irgendein Foto.« Lisa konnte ihre Begeisterung kaum noch im Zaum halten. »Ich spreche jetzt nicht als Journalistin, ich will diesen Moment einfach für mich festhalten.«
Alexander rührte sich nicht.
»Machen Sie schon«, sagte er schließlich. »Sie setzen sich über jede meiner Regeln hinweg, Lisa.«
Glücklich drückte Lisa auf den Auslöser. Nach zwölf Nahaufnahmen und einer Gesamtansicht wählte sie noch ein paar interessante Blickwinkel und kehrte dann zufrieden zu ihrem Platz zurück.
»Danke für Ihr Vertrauen.«
Die Kunstwerke, die Wärme der über ihren Körper tastenden Hände und das Entgegenkommen des blinden Bildhauers erfüllten sie mit einem wohligen Gefühl.
Alexanders streng zusammengepresste Lippen und sein schmales Gesicht waren ihr in den letzten zwei Tagen immer vertrauter geworden. Seine blonden, zurückgekämmten Haare und sein schlanker, in den Schultern etwas gekrümmter Körper begannen ihr sympathisch zu werden. Sie wünschte plötzlich, dass auch sie Alexanders Körper berühren dürfte. Wie ein Ohrwurm kreiste dieser Gedanke in ihrem Kopf und ließ sich nicht mehr austreiben, was sie auch anstellte. Sie beschloss, in dem Bildhauer einen Arzt zu sehen – in der Welt ihrer Erfahrungen war das die einzige adäquate Möglichkeit –, aber auch das half nicht …
»Arbeiten Sie immer mit menschlichen Modellen? Standen für die Uhr zwölf Menschen in dieser Werkstatt Modell?«, fuhr Lisa mit ihren Fragen fort, und sie bemerkte plötzlich, dass da eher Eifersucht aus ihr sprach als journalistische Neugier.
»Nein«, sagte Alexander und tunkte seine tonbeschmierten Hände ins Wasser, wovon es trüb wurde. »Ich arbeite nur selten mit Modellen. Nur wenn meine dunkle Welt menschenleer wird, greife ich auf dieses Mittel zurück.« Er trocknete sich die Hände ab und fasste wieder Lisas Brust an.
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