Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Techno der Jaguare

Techno der Jaguare

Titel: Techno der Jaguare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manana Tandaschwili , Jost Gippert
Vom Netzwerk:
die Augen. Als es nun völlig dunkel um sie herum war, glitt sie mit der Hand ihren eigenen Rücken hinab. Sie versuchte, genauso wie Alexander es tat, sich nur mit den Händen wahrzunehmen. Sie wollte wissen, was die Konturen über ihren Körper verrieten. Was jede Form und jede Falte über sie aussagte. Das Spiel erwies sich als schwierig, aber fesselnd.
    Mit den Händen tastend fand Lisa ihre Bluse und ihre Jeans. Sie glaubte, das Zimmer gut zu kennen, aber in ihrer Vorstellung verschwommen die Maßstäbe, und sie verschätzte sich bei den Richtungen. Mal stieß sie gegen den Tisch, mal gegen den offenen Kleiderschrank. Mit dem Zimmertelefon rief sie die Rezeption an und bat den Hotelangestellten, ihr ein Taxi zu rufen. Sie band ihr Haar zusammen und suchte mit den Händen ihre Schlüssel und ihr Handy. Das Zimmer verließ sie, indem sie sich an der Wand entlangtastete. Im Aufzug konnte sie jemanden wahrnehmen.
    »Fahren Sie nach unten?«, fragte sie und wandte automatisch ihren Kopf nach links.
    »Ja«, erklang eine erstaunte Stimme von rechts.
    »Ich auch.« Nun lächelte sie nach rechts.
    Der verwunderte Portier brachte sie zum Taxi. Lisa nannte dem Fahrer Alexanders Adresse und bezahlte ihn gleich, wobei ihr der Portier half.
    Es war noch reichlich früh, als sie bei Alexander ankam. Der Leibwächter brachte sie ins Haus, ohne Fragen zu stellen.
    »Sie sind ja schon da«, hörte sie bald darauf auch schon Alexanders Stimme.
    Seine Stimme erschien ihr heute besonders vertraut.
    »Bin ich zu früh?«
    »Nein. Kommen Sie«, sagte er, darauf wartend, dass sie zu ihm käme.
    Lisa blieb, wo sie stand.
    »Könnten Sie mir bitte Ihren Arm reichen?« Lächelnd streckte sie ihm die Arme entgegen, ohne einen Schritt zu gehen.
    Ihr schien es, als ob sie und Alexander sich zum ersten Mal berührten. Lisa führte seine Hand zu ihrem Gesicht.
    »Was ist das denn?« Er betastete ihre Augenbinde.
    »Solidarität«, lachte Lisa. »Seit heute Morgen bin ich auch blind. Vom Hotel aus bin ich so hierher gekommen. Ich kann nichts mehr sehen, genauso wie du. Ich höre nur und fühle.« Sie kokettierte ein bisschen. »Dadurch werde ich zwar nicht zu einem begnadeten Bildhauer, aber vielleicht wird es mir helfen, dich zu verstehen …«
    Alexander lachte nicht. Er stand nur da und musterte Lisa mit ihren verbundenen Augen, Lisa, der es Spaß zu machen schien, neue Erfahrungen zu machen, die sich wie ein Kind über seine Gefühlskälte empörte und die ein einziges freundliches Wort jedem Interview oder exklusiven Foto vorzog.
    Über die Jahre hatte Alexander etwas Entscheidendes gelernt – dass man nicht nachdenken sollte. Er lebte und arbeitete, versenkte sich in die Arbeit und dachte dabei nicht nach. Erinnerungen und Wünsche hatten in seinem Leben keinen Platz. Er dachte auch nicht mehr an seine Mutter. Monatlich wurde mehr auf ihr Konto überwiesen, als die ergreiste Frau brauchte. Er mied die Menschen. Er verkehrte nur mit denjenigen, mit denen er arbeitete. Er hatte keine Freunde. Er vertraute keinem Menschen. Nur selten besuchte ihn eine Frau, und wenn, dann war es immer eine andere. Freizeit hatte er kaum, und er brauchte sie auch nicht.
    Als er Lisa ansah, kamen die Erinnerungen an seine Kindheit wieder in ihm hoch. Auch er hatte damals auf diese Weise das Blindsein erlernt. Er blickte auf ihre verschränkten Arme, lächelte und führte sie sanft in den Lift.
    »Warum sagen Sie nichts?«, fragte Lisa ungeduldig. »Benehme ich mich albern?« Sie wollte die Augenbinde schon abnehmen.
    Alexander hielt sie davon ab, und sie betraten die Werkstatt.
    »Fangen wir an«, sagte er freundlich, und Lisa entspannte sich.
    »Werden Sie noch lange für meine Skulptur brauchen?«, fragte sie und fing an, sich auszuziehen.
    »Das hängt auch von dir ab.« Er knetete den Ton durch und gleichzeitig betrachtete er Lisa.
    Jetzt konnte er sie ganz ungehindert beobachten. Lisa zog sich vollständig aus und fragte dann nach dem seidenen Morgenmantel.
    »Der muss hier irgendwo sein«, antwortete Alexander. »Du willst doch wissen, wie es ist, blind zu sein. Du kannst ja danach suchen.«
    Zuerst lachte Lisa, aber dann beschwerte sie sich. Mit einer Hand bedeckte sie ihre Brust, die andere streckte sie tastend von sich.
    »In welche Richtung soll ich gehen? Die Fenster sind, glaub ich, direkt vor mir. Soll ich da suchen?«
    »Du kannst dich ja bestens orientieren … Du kannst beim Fenster suchen oder auf dem Hocker … Wenn du ihn nicht findest,

Weitere Kostenlose Bücher