Tee macht tot
war in ihrem Gesicht zu erkennen. Dass Agatha selbst in dieser Situation so wenig Mitgefühl und Anstand zeigte, hatte sie dermaßen irritiert, dass sie nur schnell aus deren Blickfeld verschwinden wollte. Eilig hatte sie Reinhold mitgezogen. Und da war das Problem. In dieser Aufregung hatte sie vergessen, ihre Türe abzusperren. Noch nie, war ihr das passiert doch Agatha hatte dies fertiggebracht, ohne dass sie reden musste. Allein ihre Blicke brachten andere aus der Fassung. Esther wusste auch, dass niemand anderes, als die fiese Agatha, es gewagt hätte, ihr Zimmer unbefugt zu betreten. Das machte niemand hier. Außerdem war Agatha die Einzige gewesen, die den Trauerfeierlichkeiten nicht beigewohnt hatte.
Esther Friedrichsen traten Tränen in die Augen. Schwer ließ sie sich auf ihr Bett sinken, aber nur kurz, denn nun fiel ihr Blick auf das Glas mit dem Donnerstagstee. So schnell es ihre runden Hüften vermochten, erhob sie sich und trat an den Schrank heran. Erleichtert stellte sie fest, dass D zwar nun bei S stand, aber ansonsten schien das Glas unberührt zu sein. So sehr ihr in diesem Augenblick auch ein Stein vom Herzen fiel, so sehr regte sich Esther Friedrichsen nun aber auch darüber auf. Hätte Agatha den Donnerstagstee ebenfalls einem anderen Glas beigemengt, hätte sie damit großen Schaden anrichten können. Die fiese Agatha war nicht nur fies, sondern hatte auch von Kräutern keine Ahnung.
Das alte Herz klopfte ihr bis zum Halse und hätte ihr Arthrosebein nach diesem langen Tag nicht Ruhe gebraucht, wäre sie in das Zimmer geeilt, von dem aus sie diese Ungeheuerlichkeit vermutete. Die Situation machte es jedoch erforderlich, dass sie ihre Beine hochlegte, um den Anfall zu lindern. Außerdem, da war sich Esther sicher, hätte Agatha ihre Tat ohnehin nicht zugegeben.
Spät abends machte sie sich daran, in ihrem geliebten Kräuterschrank, so weit wie möglich, Ordnung schaffen. Alle noch brauchbaren Kräuter sortierte sie wieder in alphabetische Reihenfolge, den Rest kippte sie schweren Herzens in den Müll. Der nächste Gemeinschaftstag würde darauf verwendet werden müssen, Kräuter nachzukaufen und das in einer Menge, dass Esther bei dem Gedanken daran ganz schwindlig wurde.
Esther beschloss, die Sache für heute auf sich beruhen zu lassen, und legte sich in ihr Bett. Lange lag sie wach und dachte darüber nach, wie sehr sich das friedliche Leben seit Agatha Einzug verändert hatte.
Wäre morgen Donnerstag, hätte sie gewusst, was sie zu tun hätte.
36
Am Tag nach der rührenden Beerdigung von Frieda Paulsen bat Reinhold Paulsen seine Freundinnen Esther Friedrichsen und Ingrid van Brekelkam zu sich.
Über Nacht schien es, als habe er abgenommen. Seine braune Stoffhose hing von Hosenträgern gehalten an ihm, als wäre es nie seine gewesen. Das Hemd, das er gestern bereits trug, hing zerknittert an der rechten Seite über dem Hosenbund. Nachlässig hatte er es bis zu den Ellbogen hinaufgekrempelt. Schlurfend ging der gebrochene Mann zu dem geblümten Sessel, in dem Frieda immer gesessen und gewartet hatte, wenn er seinem morgendlichen Geschäften nachgegangen war. Schwer ließ er sich hineinsinken. Den Kopf in die Hände gestützt, rannen ihm die Tränen. Seine eingefallenen Wangen ließen die Falten um seinen Mund noch tiefer erscheinen. Mit verquollenen Augen starrte er zunächst leer vor sich hin, um dann hinter seinen Händen die Dunkelheit zu suchen.
Der zartblaue Vorhang mit den abgesetzten Rüschen war zugezogen; die ganze Nacht hatte er unübersehbar Friedas Sachen in seinen zitternden Händen gehalten. Die Bluse, die sie zuletzt getragen hatte, lag über der Armlehne. Vorsichtig, als wäre es das Kostbarste der Welt, nahm er sie auf und hielt sie sich an die Nase. Tief sog er ihren vertrauten Geruch auf. Das ehemals so schöne Doppelappartement glich einem Schlachtfeld. Doch die liebevollen Hände seiner Frau würden dieses Chaos nicht entfernen.
Esther und Ingrid saßen ihm gegenüber, bereit, ihm in seinem Schmerz beizustehen.
„Wie soll mein Leben nur ohne Frieda weitergehen?“, wollte er mit gebrochener Stimme wissen. „Was habe ich noch? Mein ganzes Leben habe ich mit meiner Frieda gelebt, mit ihr gelacht und mich schrecklich gesorgt, wenn sie sich wieder einmal verlaufen hat.“ Kopfschüttelnd versuchte er, das Unfassbare aus seinem Gedächtnis zu drängen.
Esther und Ingrid saßen stumm neben ihm. Keine Worte hätten das linden können, was
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