Tee macht tot
er ertragen musste.
„Es war meine Schuld!“, machte er sich selbst Vorwürfe. „Hätte ich sie doch nur schneller gefunden!“
„Nein Reinhold, es war nicht deine Schuld“, versuchte Esther, ihm seine Schuldgefühle zu nehmen. „Es war ein tragischer Unfall.“
„Wenn jemand Schuld daran trägt, ist es Agatha. Man hätte sie damals töten sollen, als es noch Zeit war. Dann wäre das nicht passiert“, insistiere Ingrid.
Erneut brach Reinhold in Tränen aus. Ingrid traf den Nagel auf den Kopf. „Wäre doch Agatha nie gekommen, dann wäre mir das alles erspart geblieben, und ich würde immer noch mit Frieda hier sitzen.“ Den Kummer würde er nie vergessen können. Das spürte er tief in sich drin. Das Bleigewicht, das auf seinem Herzen lag, wog viel zu schwer, als dass er es tragen konnte. Brennend fühlte er die Tränen seine Wangen herunterlaufen.
Nun war es Esther, der ein leises Schuldgefühl emporstieg. Sicher wäre es Mord gewesen, Agatha den Tee zu verabreichen, aber hätte sie damals schon gewusst, wie das enden würde, wäre Agatha zweifelsfrei die bessere Tote gewesen.
Von tiefem Mitgefühl erfasst, schluckte Esther schwer. Reinholds Schmerz lag zum Greifen in diesem Zimmer. Die Wände schienen näher zu rücken; ein beklemmendes Gefühl legte sich wie eine Eisenkette um Esthers Herz. Es war so ungerecht, dass Frieda auf diese abscheuliche Art sterben musste.
Nur langsam fand Reinhold seine Stimme wieder. Er räusperte sich und zog lautstark die Nase hoch. Esther reichte ihm ein Taschentuch. „Was soll ich nur tun?“, wollte er, seine Nase im Taschentuch vergraben, noch einmal wissen.
Esther und Ingrid konnten ihm diese Frage nicht beantworten. Und gerade weil sie das nicht konnten und ihm das Liebste, das er besaß, genommen worden war, bat er um den Donnerstagstee. Er wolle zu seiner Frieda eilen.
Esther und Ingrid sahen sich an. „Er soll sich die Zeit nehmen und seine Entscheidung reiflich überlegen!“, bat Ingrid. „Überstürztes Handeln hat schon viele zu Fall gebracht.“
Reinhold schüttelte jedoch mit dem Kopf. Mit der fiesen Agatha wollte er auf gar keinen Fall mehr in einem Flur zusammenwohnen. Darüber hinaus saß seine Frieda sicherlich irgendwo dort oben auf einer Bank und wartete auf ihn, so wie sie es auch schon zu Lebzeiten getan hatte. „Nein“, meinte er entschieden. „Ich werde sie nicht warten lassen.“
Ergriffen lächelten die beiden alten Damen ihn an. Dann soll es so sein, meinte Esther Friedrichsen. Seine Entscheidung hatte nichts Verwerfliches. In Reinholds Alter konnte man nicht mehr verlangen, dass man sich von so einem tragischen Verlust erholen musste. Nein, ganz gewiss nicht! Frieda hatte ein viel zu großes Loch hinterlassen, obwohl sie doch so klein war.
Während Ingrid ihren Arm um den verzweifelten Freund gelegt hatte, entschuldigte sich Esther, um in ihrem Zimmer einige Kräuter vorzubereiten.
37
Als sie auf den Gang hinaustrat, begegnete sie Agathas Blick. Mit arroganter Selbstverständlichkeit starrte sie Esther an. Esther meinte, in diesem Blick auch Schadenfreude erkennen zu können, was großen Zorn in ihr hochsteigen ließ. Zorn auf die Frau, die nach St. Benedikta so viel Unfrieden gebracht hatte. Das Gefühl erschreckte sie, doch unterdrücken ließ es sich nicht. Der Kummer darüber, Frieda verloren zu haben und nun auch Reinhold zu verlieren, saß tief. Die Freundschaft zwischen ihnen war so tief geworden im Laufe der Zeit, dass Esther es schwerfiel, darüber nachzudenken, wie es sein würde, ohne sie zu sein. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und erhobenen Hauptes marschierte sie an Agatha vorbei.
In ihrem Zimmer begutachtete sie ihren fast leeren Schrank und sortierte passende Kräuter zusammen, die sie in ihr Leinensäcklein abfüllte. Sie war so sehr in ihrem Tun vertieft, dass sie nicht bemerkte, wie Agatha in ihr Zimmer trat.
„Hat Reinhold nach Tee verlangt?“
Esther fiel vor Schreck das Kräuterglas mit der Kamille aus der Hand. Mit einem dumpfen Poltern landete es auf dem Boden und zerbarst in tausend kleinen Scherben. Damit war nun auch die Kamille unbrauchbar geworden.
„Was? Woher …?“, fragte Esther schluckend.
„Ich habe die ewig flennende Hildegard davon sprechen hören“.
„Dass Hildegard mit ihren Nerven am Ende ist, ist nur dir und deiner Tyrannei zu verdanken. Hast du denn nicht schon genug Unheil angerichtet?“ Esther Friedrichsen war mehr als erbost über Agathas
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