Tee macht tot
geöffneten Grab vorbeikam, warf sie einen Blick hinein.
Esther war wie hypnotisiert. Unfähig sich zu regen, stand sie einfach da und starrte hinab. Sie spürte weder den Regen noch den Wind noch ihr schmerzendes Bein. Sie fühlte einfach gar nichts mehr. Nur eine seltsame Leere, die sie versuchte, abzuschütteln. Nein, das da unten konnte unmöglich Frieda sein! Das war sicherlich nur ein Traum. Ein schlechter Traum, aus dem sie gleich aufwachen würde. Fest kniff sie ihre Augen zusammen; als sie sie wieder öffnete, stellte sie fest, dass sie immer noch dort stand, wo sie stand. Sie trat einen Schritt zurück, um sich wieder zaghaft der Grube zu nähern. Doch, da unten lag eindeutig und wahrhaft ihre Nachbarin, die Frau von Reinhold, die kleinste Frau, die sie je gesehen hatte!
„Frieda? Frieda?“, rief sie hinab. „Frieda, geht es dir gut?“
Stumm blieb Frieda liegen. Tat keine Regung. Gab kein Zeichen von Leben von sich.
Wie nah sie sich alle gewesen waren, als das Unglück geschah, ahnte niemand. Denn der Moment, als sich Esther, Reinhold und Ingrid in der Mitte trafen, war Friedas Letzter gewesen. Rücklings war sie in das Loch gefallen, in dem bereits der Sarg von Desiree Nabel hinuntergelassen war. Darauf lagen weiße Lilien zum Abschied. Der Schmerz war höllisch gewesen, als er in Friedas Rücken schoss. Explosionsartig zerbarst er in ihrem kleinen Kopf in tausend kleinere Explosionen. Unfähig, sich zu bewegen, hatte Frieda auf dem Rücken liegend in den düsteren Himmel geschaut. Unter ihren Händen fühlte sie die zarten Blütenkelche der Lilien, in ihre Nase stieg der Geruch ihrer unvergleichlicher Reinheit.
Dann machte sich um sie herum Nebel breit. Das Letzte, was Frieda dachte, bevor sie ihre Augen schloss, war, ach herrje, ob mich Reinhold hier wohl findet? Keine 3 Meter von ihm entfernt starb sie.
„Neeeein!“, schrie Reinhold, der Esther gefolgt war, auf. Noch einmal, „neeeeein!“, so laut, dass die Trauergesellschaft in der Kirche, der Pfarrer und die Totengräber angerannt kamen. Alle blieben fassungslos vor der Grube stehen.
35
Genickbruch hatte der Arzt auf den Totenschein geschrieben. Gestorben auf dem Friedhof, infolge eines unglückseligen Sturzes.
Drei Tage später nahm Reinhold Abschied von Frieda. Die Trauerfeier wurde von vielen Senioren des Stifts St. Benedikta begleitet. Balthasar Sebastian Rohrasch, der sich tief betroffen zeigte, hielt eine Ansprache, die den Unfall als besonders tragisch hervorhob, da dies bedeutete, dass sie nun mit der Todeszahl gleichauf zum Mozarthaus lagen. Für den bevorstehenden Herbst und den unweigerlich darauffolgenden Winter wünschte er sich von seinen Senioren mehr Siegerwillen; ein besonderes Augenmerk sollten sie auf ihre beschrittenen Wege legen.
Kopfnickend versprachen die Senioren, bis zur nächsten Auszeichnung auf ihr Überleben zu achten.
Danach fuhr Pfarrer Johann kopfschüttelnd mit seiner Gedenkandacht fort. St. Benedikta blieb ihm ein Rätsel. Für ihn hatten die dort drüben alle einen an der Waffel. Einseitig waren seine Gedanken aber auch nicht. Die Bewohner von St. Benedikta samt Heimleiter dachten nämlich das Gleiche von ihm. Dass der Pfarrer seine Predigten allesamt auswendig wusste, war ja auch nicht ganz normal.
Reinhold streifte seiner Frieda den neuen, versprochenen Ehering über und legte seinen ebenfalls an. Eine ganze Monatsrente hatte er dafür gezahlt. Esther hatte zwar ermahnt, etwas Vorsicht walten zu lassen, aber Reinhold stellte sich taub. Für seine Frieda wäre ihm nichts zu teuer. Langsam wurde sie hinab gelassen.
Reinhold warf sich vor der Grube auf die Knie. „Ich werde dich immer lieben“, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme.
Die Trauergesellschaft stand um Friedas Grab und warf zum Abschied rote Rosen auf ihren Sarg. Anschließend begaben sich alle bedrückt zurück nach St. Benedikta.
Flankiert von Ingrid in ihrem Rollstuhl und Esther, ließ Reinhold sich nicht dazu bewegen, Frieda zu verlassen. Leise sprach er mit ihr, so gerne hätte er sich zu ihr gelegt. Hätte sie an der Hand gehalten und sie an den Ort begleitet, der als friedlichster Platz des Universums galt.
Ingrid van Brekelkam, die sich bisher vom Tod nie hatte beeindrucken lassen, liefen vereinzelt Tränen die Wangen hinab, die sie verstohlen wegwischte.
Nicht anders erging es Esther.
Reinholds Trauer war so unendlich, so greifbar, so schrecklich tief, dass Esther dachte, dass
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