Teeblätter und Taschendiebe
Chet nicht verrückter als alle anderen auch«, fügte Annie hinzu. »Und was die einsturzgefährdeten Gebäude in der Back Bay angeht, von denen er immer geredet hat, kann ich nur sagen: Ich bin selbst mal fast erschlagen worden, als damals die Fenster aus dem Hancock Tower gefallen sind. Die mußten wer weiß wie lange den Bürgersteig absperren, wenn ich mich recht erinnere. So unwahrscheinlich ist Chets Geschichte gar nicht gewesen. Er hat doch selbst früher mal irgendwo am Bau gearbeitet, oder nicht, Joanie? Vielleicht hat er was gewußt, was wir nicht wissen.«
»Ich dachte, er war Vorarbeiter im Navy Yard.«
»Hat er Ihnen das erzählt, Joan?« erkundigte sich Sarah.
»Ach herrje, Mrs. Bittersohn, ich weiß wirklich nicht mehr, ob es Chet oder jemand anders gewesen ist, der mir das erzählt hat. Vielleicht hat auch nur einer der Männer gesagt, er hätte ihn drüben im Hafenviertel gesehen und angenommen, daß er im Yard arbeitet. Im Center wird immer 'ne Menge gequatscht. Die Leute zerreißen sich ständig die Mäuler über alles mögliche, und die meiste Zeit reden sie nur in Andeutungen, bloß um irgendwas zu sagen. Ich bin da wahrscheinlich auch keine Ausnahme.«
»Würde mich interessieren, ob Chet auch mit anderen über sein Testament geredet hat.« Während sie sprach, ließ Annie ganz nebenbei ein Zuckertütchen nach dem anderen in ihrer Handtasche verschwinden. »Ich hab' ihn noch gefragt, warum er sich die ganze Mühe macht, aber er hat bloß gesagt, jeder Mensch sollte ein Testament machen. Da hab' ich ihn ein bißchen aufgezogen und gefragt, wem er denn seine Millionen vermachen will, aber darauf hat er keine Antwort gegeben. Er hat bloß gesagt, darüber darf er nicht sprechen, weil sonst das Testament ungültig wird. Vielleicht stimmt das sogar, ich hab' keine Ahnung. Du, Joanie?«
»Ich auch nicht. Ich hab' noch nie vorher jemanden mit 'nem Testament gekannt. Und auch noch nie jemanden, der was zu vererben hatte. Hat man das Testament schon gefunden, Mrs. Kelling?«
Mary warf Sarah einen fragenden Blick zu, und als ihre Schwägerin nickte, antwortete sie vorsichtig: »Ich glaube, mein Mann hat einige Dokumente, die Chet gehört haben, aber genaueres weiß ich leider auch nicht. Wahrscheinlich werden wir es früher oder später erfahren, falls es überhaupt etwas zu erfahren gibt. So, Mädels, ich schlage vor, wir gehen wieder zum Center zurück, bevor Osmond Loveday einen schwarzen Strich auf meine Karte macht, weil ich angeblich blaumache.«
Annie und Joan verstanden den Wink und verabschiedeten sich.
»Was machst du jetzt, Sarah?«
»Ich gehe auf dem schnellsten Weg nach Hause und gönne meinem Baby ein kleines Schläfchen. Warum kommst du nicht heute abend mit Dolph bei uns vorbei? Wir haben doch eine Menge zu besprechen, meinst du nicht?«
»Sieht ganz so aus. Vielleicht machen wir das tatsächlich, aber wir kommen auf keinen Fall zum Essen. Genevieve dünstet etwas Fleisch und Gemüse.«
Sarah schauderte und machte sich auf den Heimweg. Sie wollte sich unbedingt hinlegen. Niemand hatte ihr gesagt, daß die Füße einer Schwangeren so stark anschwellen konnten. Aber wahrscheinlich verbrachten auch nicht alle schwangeren Frauen den Tag damit, quer durch Boston zu marschieren. Sie spielte mit dem Gedanken, ein Taxi zur Tulip Street zu nehmen, doch ihre puritanische Erziehung siegte, und sie ging zu Fuß.
Als Max einige Stunden später nach Hause kam, fand er sie auf dem Sofa liegend vor. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und die Augen geschlossen. Er kniete sich vor dem Sofa auf den Boden und umarmte sie zärtlich. »Alles in Ordnung, Liebling?«
»Ich ruhe mich nur ein bißchen aus.« Sie griff in sein dichtes Haar und zog sein Gesicht zu sich herab, um ihn zu küssen. »Mhm. Das war schön. O je, ich wollte doch Brooks und Theonia anrufen. Ich habe Mary und Dolph für heute abend auf einen Drink eingeladen. Wie spät ist es denn?«
»Viertel vor fünf.«
»Dann sollte ich mich allmählich in Bewegung setzen, wenn ich dazu überhaupt noch in der Lage bin. Bist du so lieb und rufst Theonia an, und fragst, ob sie und Brooks Lust haben, auch vorbeizukommen? Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um das Eis.«
»Soll ich Jem auch anrufen?«
»Wenn er Zeit hat, kann er gern kommen.«
Sarah begab sich in ihre winzige Küche und machte sich daran, Käse zu schneiden und die Gläser aus dem Schrank zu nehmen. Sie konnte es kaum erwarten, endlich eine geräumige Küche zu haben, in
Weitere Kostenlose Bücher