Teeblätter und Taschendiebe
Lippen ablesen, daß es keinem aufgefallen ist. Der Mann vermutet, Chets Taubheit hätte vielleicht etwas mit seiner Arbeit zu tun gehabt. Früher habe es ganz in der Nähe eine Heizkesselfabrik gegeben, und dort sei es so laut gewesen, daß viele der Arbeiter nach und nach ihr Gehör verloren hätten - genau wie die Kinder, die sich heutzutage die Ohren mit diesem schrecklichen Hardrock volldröhnen.«
»Hast du in der Heizkesselfabrik nachgefragt?«
»Ging leider nicht. Sie wurde vor zehn Jahren geschlossen. Danach habe er Chet nur sehr selten gesehen, sagt der Mann. Eine Weile sei er noch ab und zu gekommen, um sein Spiegelei zu essen, wahrscheinlich um der guten alten Zeiten willen, aber seit dem Tag, als er mit dem Gewinnlos aufgekreuzt ist, sei er nie wieder da gewesen. Alle hätten angenommen, er sei fortgezogen und lebe in Saus und Braus von seinem Gewinn.«
»Wieviel hat er denn gewonnen?« fragte Theonia.
»Fünfundzwanzigtausend Dollar, abzüglich Steuern. Wenn er wirklich in dieser Heizkesselfabrik oder sonst irgendwo in der Nähe gearbeitet hat, wofür die regelmäßige Mittagspause spricht, könnte es durchaus sein, daß er sich den Rest des Geldes, das er Mary vermacht hat, von seinem Lohn zusammengespart hat oder bei der Schließung der Fabrik als Abfindung für alle Rentenansprüche ausgezahlt bekommen hat. Ich habe dem Mann gegenüber erwähnt, daß Chet vielleicht Vorarbeiter war, was ihn sehr überraschte. Er sagt, Chet habe sich kein bißchen wie ein Vorarbeiter verhalten, was immer das heißen mag.«
»Mr. Loveday hält sie sowieso alle für Lügner«, warf Sarah ein.
»Der Kerl ist ein richtiges Herzchen«, regte sich Max auf. »Ich frage mich wirklich, was ihn wohl bewogen hat, eine Stelle im Bereich der Sozialfürsorge anzunehmen.«
»Gegensätze ziehen sich bekanntlich an«, schlug Sarah vor.
»Bei ihm war es wohl eher Snobismus«, meinte Cousine Theonia. »Es klingt zwar nicht nach Nächstenliebe, aber ich bin der Meinung, daß unser Mr. Loveday zu den sogenannten Speichelleckern gehört, die von den Krumen vom Tisch der Reichen leben und jede Gelegenheit nutzen, wohlhabende, einflußreiche Personen zu treffen, auch wenn sie selbst wenig Aussicht auf sozialen Aufstieg haben. Wenn man bedenkt, an wen wir den ganzen Tag geschrieben haben, brauche ich euch ja kaum zu erzählen, daß Wohltätigkeitsorganisationen nicht nur mit Armen, sondern genausoviel mit Reichen zu tun haben. Außerdem war er bestimmt stolz darauf, jeden Tag Kontakt mit dem berühmten Mr. Frederick Kelling zu haben. Das konnte schließlich nicht jeder von sich behaupten.«
»Das hätte auch kaum einer gewollt«, sagte Sarah. »Die meisten Leute haben ihn nämlich gemieden wie die Pest. Noch etwas Tee, Theonia?«
»Nein, vielen Dank. Ich sollte mich allmählich auf den Heimweg machen. Ich möchte Mariposa nicht zwei Abende hintereinander mit dem Abendessen im Stich lassen, schließlich hat sie schon den ganzen Tag geputzt und aufgeräumt. Nein, Max, du brauchst wirklich nicht mit zur Tür zu kommen.«
Kapitel 9
Sie gab beiden einen Abschiedskuß und entschwand in einer Ar-pege-Wolke. Sarah brachte das Tablett in die Küche, kam zum Sofa zurück, legte die Füße hoch und lehnte sich zärtlich an Max' Schulter.
»Du hast tatsächlich mit eigenen Augen gesehen, wie Tigger im Center beim Servieren geholfen hat? Ich bin sprachlos. Hatte sie sich etwa auch noch die Haare gekämmt?«
»Darauf habe ich nicht geachtet. Aber sie hat weniger wütend darunter hervorgestarrt als beim letzten Treffen, an das ich mich erinnern kann. Eigentlich hat sie überhaupt nicht wütend gestarrt, wenn ich es mir recht überlege. Ich hätte sie nie im Leben erkannt, wenn sie nicht ihre Springerstiefel getragen hätte.«
»Hat sie mit dir gesprochen?«
»Höchstwahrscheinlich hat sie mich gar nicht bemerkt. Ich habe sie nur durchs Fenster gesehen. Nach der Beerdigung bin ich mit Dolph und Mary zurückgegangen und habe sie bis zur Tür gebracht. Ich wollte ohnehin nicht mit ins Center gehen. Woher hast du gewußt, daß Tigger da war?«
»Weil ich sie sozusagen selbst hingebracht habe.«
Sarah schilderte die Szene in der Gasse und Tiggers ungewöhnliche Anhänglichkeit. »Es war wirklich merkwürdig, Max. Ich habe keine Ahnung, was in sie gefahren ist, es sei denn, sie hatte tatsächlich schreckliche Angst, was ich kaum glauben kann. Aber vielleicht will sie sich nur wieder in die Familie einschleichen. Tante Appie hat sich immer sehr
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