Teeblätter und Taschendiebe
eine Person war der kräftig aussehende Mann mittleren Alters, der ihr schon gestern im Center aufgefallen war, weil er viel schmutziger gewesen war als die anderen. Das mußte dieser Ted Ashe sein, von dem Dolph und Mary gestern abend gesprochen hatten. Die andere Person war eine relativ junge Frau mit verfilztem schwarzem Haar, die ihre Blue Jeans nachlässig in ihre klobigen Schnürstiefel gestopft hatte und einen haarigen braunen Poncho trug, den Sarah erst gestern gesehen hatte. Was in aller Welt hatte Tigger hier zu suchen? Und was veranlaßte sie, in aller Öffentlichkeit mit einem Mitglied des Senior Citizens' Recycling Centers herumzubrüllen?
Wahrscheinlich war es eine Riesendummheit, aber Sarah beschloß, nicht etwa ungesehen das Weite zu suchen, sondern sich im Schutz der Laster und Müllberge näher an die beiden Kampfhähne heranzupirschen. Es war das erste Mal, daß sie Tigger mehr als ein grimmiges Ja oder Nein ausstoßen hörte, und zunächst hatte sie den Eindruck, daß Tante Appies schlimmer Schützling in einer fremden Sprache keifte. Doch dann stellte sie fest, daß Tigger lediglich Ausdrücke benutzte, die Sarah außer in gewissen Komödien aus der Restaurationszeit noch nie gehört hatte.
Bevor sie herausfinden konnte, worum es bei dem Wortgefecht überhaupt ging, hatte sie der Mann, in dem sie Ted Ashe vermutete, bereits entdeckt. Er brach sofort mitten im Satz ab und eilte von dannen. Tigger warf einen Blick über die Schulter, sah Sarah näherkommen und blieb, wo sie war.
Sarah hatte zwar keine Lust, sich mit Tigger zu unterhalten, doch einfach kehrtmachen und weggehen konnte sie auch nicht, weil sie Tigger damit vor den Kopf gestoßen hätte. Und das brachte sie nicht übers Herz. Außerdem glaubte sie sich zu erinnern, daß das Schreibwarengeschäft, in dem sie die Umschläge kaufen wollte, in dieser Richtung lag. Also ging sie weiter. Tigger bewegte sich immer noch nicht von der Stelle, so daß Sarah schließlich nichts anderes übrig blieb, als sie anzusprechen.
»Hallo, Tigger. Was war denn hier los?«
Statt ihr Gegenüber wie üblich wütend anzustarren, beantwortete Tigger tatsächlich Sarahs Frage. »Das Schwein wollte mich vergewaltigen.«
»Nein! Das ist doch nicht möglich!«
Sarahs Reaktion war alles andere als taktvoll. Vergewaltiger suchen sich ihre Opfer nicht wegen ihres Sexappeals. Andererseits war es durchaus denkbar, daß Tigger für Ted Ashe die Frau seiner Träume verkörperte, wenn seine eigene äußere Erscheinung seinen persönlichen Geschmack widerspiegelte. »Wenigstens hast du ihn vertreiben können«, meinte sie ausweichend.
Tigger warf ihr einen Blick zu und wechselte das Thema. »Und was machst du hier?«
»Ich wollte Briefumschläge kaufen. Ich habe gerade in dem Geschäft da vorne Einladungen kopiert«, sie wedelte vielsagend mit ihrem Pappkarton, »und jetzt muß ich sie nur noch abschicken.«
»Einladungen wofür?«
»Für eine Organisation, die mein Cousin Dolph und seine Frau gegründet haben.« »Das SCRC.«
»Woher weißt du das?« fragte Sarah einigermaßen verblüfft.
Doch Tigger hatte für heute anscheinend genug geredet. Als sie keine Anstalten machte, ihre Frage zu beantworten, ging Sarah weiter. Tigger trabte neben ihr her. Noch eine Überraschung, und keine sonderlich angenehme. Die einzige Erklärung für Tiggers ungewöhnliches Verhalten war wohl, daß sie sich durch das, was Ted Ashe zu ihr gesagt hatte, ernsthaft bedroht fühlte und Angst hatte, allein zu gehen. Was bedeutete, daß Sarah nichts anderes übrigblieb, als Tiggers Gesellschaft zähneknirschend zu ertragen und ihren eigenen Aufgaben nachzugehen.
Das Schreibwarengeschäft stand entweder nicht mehr an der Stelle, an die sich Sarah erinnerte, oder hatte nie dort gestanden, doch glücklicherweise entdeckte sie kurze Zeit später einen Billigladen, in dem man so gut wie alles bekam. Hier gab es sogar die schmalen weißen Umschläge, nach denen sie suchte, allerdings nur in Packungen zu fünfzig Stück. Sie kaufte zehn davon und mußte feststellen, daß sie reichlich sperrig waren. Zu ihrer großen Überraschung bot Tigger ihr an, die Tasche für sie zu tragen.
»Das ist wirklich nicht nötig«, versuchte Sarah zu protestieren. »Das schaffe ich schon. Außerdem muß ich noch den ganzen Weg bis zur North Station gehen, um die Liste mit den Adressen abzuholen.«
Doch Tigger ließ sich nicht abwimmeln. Als Sarah die Treppe zur U-Bahn hinunterstieg, folgte Tigger ihr auf dem
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