Tegernseer Seilschaften
Bernhard sich sträuben würde, da er der Auffassung war, dass es ihrer Beziehung guttue, wenn sie sich nicht in den Beruf des anderen einmischten. Wobei Anne sich ohnehin nicht sicher war, ob man es als »Beruf« bezeichnen konnte, was Bernhard den ganzen Tag machte. Ihr kam es so vor, als würde das »An-der-Doktorarbeit-Schreiben« vor allem aus Zeitunglesen bestehen. Natürlich war ihr klar, dass sie von dieser Situation auch profitierte, denn er kümmerte sich um den Haushalt und auch darum, dass Lisa nachmittags versorgt war. Aber jetzt brauchte sie ihn wirklich, denn Nonnenmachers Verbot stand. Sie selbst konnte unmöglich mit den Fichtners Kontakt aufnehmen. Nonnenmacher würde ausrasten, sollte er davon erfahren. Wenn sie es sich schon am Anfang mit ihrem Chef verscherzte, konnte sie sich ihre Kripopläne gleich abschminken. Aber wenn Bernhard Informationen beschaffen könnte, die ihrer Intuition eine etwas solidere Grundlage verschafften, würde Nonnenmacher ihr vielleicht doch noch eine genauere Ãberprüfung des Falls erlauben.
»Es geht mir nur um eine ganz einfache Sache«, sagte sie zu Bernhard und setzte ihren verführerischsten Blick auf. »Ich möchte wissen, ob jemand in der Familie Fichtner klettert. Das müsstest du doch herausfinden können, ohne dass wer Verdacht schöpft.«
»Wieso willst du wissen, ob da jemand klettert?«
»Das werde ich dir verraten, wenn du es herausgefunden hast, mein Schatz.« Sie klimperte mit ihren Wimpern. »Machst du das bitte? Morgen? Versuchst du, den Andi Fichtner zu erreichen?«
Obwohl der Marder oder der Hausgeist â oder was auch immer â über Nacht wieder äuÃerst aktiv gewesen war und Bernhard wach gehalten hatte, rief er am nächsten Tag im Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München an. Er kannte dort einen Doktorandenkollegen, mit dem er sich ganz gut verstand. Diesen bat er, in der Kartei der eingeschriebenen Studenten nachzusehen, ob noch ein Andreas Fichtner verzeichnet sei. Als Begründung erklärte er, dass Fichtner ihn um Hilfe gebeten habe, auf dem Anrufbeantworter aber keine Telefonnummer hinterlassen habe. Da Bernhard ihm gerne helfen würde, benötige er diese jedoch.
Ein paar Minuten später hatte Bernhard Andi Fichtner in der Leitung. Um zu vertuschen, dass er aus Tegernsee anrief, hatte er die Nummer von seinem Handy aus angewählt.
Sicher sei Fichtner überrascht, begann Bernhard, dass er sich bei ihm melde â ob er sich noch an ihn erinnern könne? Er sei der Bernhard von Rothbach und komme ursprünglich auch aus Tegernsee und habe ihm mal bei der Zimmersuche geholfen.
»Ja, klar erinnere ich mich«, sagte Fichtner.
»Und jetzt bräuchte ich deine Hilfe, Andi«, fuhr Bernhard fort.
»Ach so, das ist ungünstig«, meinte Fichtner daraufhin, »weiÃt du, mein Vater ist gestorben.«
»Echt? Oh, du, dann mein herzliches Beileid«, tat Bernhard erstaunt.
»Danke.«
»Das ist ja schrecklich, der war ja noch gar nicht so alt, oder?« Bernhard fühlte sich wie ein Heuchler. Das, was er gerade tat, widersprach all seinen Prinzipien.
»Neunundvierzig«, antwortete Andi Fichtner kurz angebunden.
»Das ist zu früh. Viel zu früh. Na ja, da passt dann meine Bitte natürlich überhaupt nicht.« Bernhard spürte, dass Fichtner das Gespräch beenden wollte, doch ehe der Sohn des Verstorbenen dazu kam, fuhr Bernhard fort: »Ich wollte nur fragen, ob du, weil du ja aus Tegernsee kommst, zufällig kletterst. Ein Freund von mir dreht hier in München nämlich einen Film, und er bräuchte für eine Szene jemanden, der einen Bankmanager spielt, der sich aus dem Fenster eines Gebäudes abseilt. Das wäre nur so eine Statistensache, aber gut bezahlt.«
»Nein, ich klettere nicht, bin auch nie geklettert, tut mir leid, also dann â¦Â«
»Aber dein Bruder vielleicht ⦠du hast doch einen Bruder, oder?«
»Nein, der Hannes auch nicht. Bei uns klettert niemand in der Familie, wir sind mehr so die Wassersportler.«
»Ach so ⦠aber habt ihr vielleicht einen Freund, der klettert?«
»Na ja, klar, da gibtâs viele. Du, ich muss jetzt aufhören, weil ich gleich Vorlesung habâ an der Uni, und heute Nachmittag muss ich schon wieder nach Tegernsee raus, weil meine Mutter ist ja jetzt allein mit dem Hof und
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