Tegernseer Seilschaften
Spaziergang.«
Bernhard fragte sich kurz, ob ihm seine Freundin nicht manchmal ein bisschen zu dominant sei, doch dann zog er sich schnell um, und sie gingen los.
Eine halbe Stunde später stand er mit ein paar SchweiÃperlen auf der Stirn neben ihr und Lisa an einer kleinen, vom gerade erst geschmolzenen Schnee noch ziemlich sumpfigen Wiese, an deren Rand sich ein bescheidener, ursprünglicher Hof mit grünen Fensterläden und einem Austragshäusel mit weiÃen Blumenkästen befand.
»Die Mühlgasse â das muss der Fichtnerhof sein«, sagte Bernhard und zeigte auf ein wenige Meter rechts vom Weg gelegenes Bauernhaus.
»Na, dann mal los«, meinte Anne und schritt zielstrebig den Weg zu dem schönen, etwa zur Hälfte mit dunklem altem Holz verkleideten Haus hinauf. Vor dem Anwesen stand eine graugesichtige Frau Ende vierzig.
Während Bernhard und Lisa am Gartenzaun stehen blieben und Lisa an der Kugel Stracciatella leckte, die sie in der Eisdiele gegenüber der Bootsanlegestelle gekauft hatten, ging Anne zu der Bäuerin. Ihr die Hand entgegenstreckend, sagte sie: »Guten Tag.«
Die Frau blickte sie etwas misstrauisch an, reichte ihr dann aber die Hand und erwiderte: »Grüà Gott.«
»Sind Sie die Frau Fichtner?«, fragte Anne.
»Ja«, antwortete die Frau mit fragendem Unterton.
»Mein herzliches Beileid zum Tod Ihres Mannes, Frau Fichtner.«
»Wer sind Sie?«, fragte die Bäuerin irritiert.
»Ich bin von der Polizei«, erwiderte Anne. »Können wir kurz zu Ihnen reingehen? Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.«
»Warum?«
»Können wir bitte kurz reingehen, Frau Fichtner«, sagte Anne jetzt in einem Tonfall, der weniger fragend denn auffordernd war. In ihren Jahren als Streifenpolizistin in München, in denen sie regelmäÃig vor der Herausforderung gestanden hatte, eine Horde besoffener FuÃballfans auf dem Marienplatz in ihre Grenzen zu weisen, hatte Anne gelernt, sich mit bestimmter Freundlichkeit durchzusetzen. Auch dieses Mal verfehlte die Bestimmtheit in ihrer Stimme nicht ihre Wirkung. Wortlos drehte sich die erschöpft aussehende Evi Fichtner um und öffnete die Tür.
Im Haus war es deutlich kühler als in der Frühlingssonne. Der Flur, in dem es etwas modrig roch, endete weiter hinten im Dunkeln. Evi Fichtner führte Anne nach rechts in die Stube, in der ein grüner Kachelofen angenehme Wärme verbreitete, jedoch auch einen leicht ruÃigen Geruch absonderte.
»Und jetzt â was wollen Sie?«, fragte Evi Fichtner mit matter Gereiztheit. Im Eck hing ein ans Kreuz genagelter Jesus, dessen Blut an der Brust schon fast verblichen war.
»Mein Name ist Anne Loop, Polizei Bad Wiessee. Hier ist mein Dienstausweis.« Anne zeigte ihr die Karte. Anstatt diese anzusehen, musterte Evi Fichtner Anne von oben bis unten. Die Polizistin sah hübsch aus.
»Wissen Sie, wie Sie ausschauen?«, fragte Evi Fichtner.
»Nein. Wie denn?«, fragte Anne, obwohl sie wusste, was kommen würde.
»Wie diese Hollywoodschauspielerin, die mit dem Johnny Depp so viele Kinder adoptiert hat.«
»Angelina Jolie? Die ist aber mit Brad Pitt zusammen. Können wir uns setzen?«
Die Bäuerin schob sich auf die Eckbank, und auch Anne setzte sich. Sie platzierte ihre Sonnenbrille auf der schlichten, aber markant gemaserten Tischplatte, dann legte sie ihre rechte Hand sanft auf Evi Fichtners linke.
Annes Plan war es, in drei Schritten vorzugehen. Erstens: Vertrauen gewinnen. Zweitens: Vernehmungsperson in Sicherheit wiegen und aus der Reserve locken. Drittens: Ãberrumpelung.
Die Menschen, die Anne nicht kannten, tendierten dazu, sie zu unterschätzen. Ihre Schönheit war zu makellos, als dass man ihr zutraute, intelligent, zielstrebig und mit Härte handeln zu können. Doch Anne konnte das sehr wohl. Man sah es ihr nicht an, aber ihr Leben war nicht immer reibungslos verlaufen. Schon als Mädchen war sie sehr hübsch gewesen und allein. Obwohl Anne in sogenannten guten Kreisen aufgewachsen war, musste sie Zudringlichkeiten aushalten, an die sie nun mit Schaudern zurückdachte. Und sie hatte schon sehr früh erfahren müssen, wie ein Gewaltverbrechen eine Familie zerstören kann. Diesen einen finsteren Tag in ihrem Leben hätte sie gern gestrichen. Der hatte schlagartig und endgültig ihre Jugend beendet. Und ihrem Glauben an ein heiles Leben
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