Tegernseer Seilschaften
lassen. Dann fragte sie vorsichtig: »Hat er vielleicht gespielt? In der Wiesseer Spielbank vielleicht?«
»Ach wo, der und Spielbank, der hat doch nicht einmal ein Sakko ⦠Ah, die Melkmaschine ist durch. Schafkopf hat er gespielt. Aber soweit ich weiÃ, gingâs da bloà um Kleingeld. Also beim Schafkopfân kann er das ganze Geld nicht verloren haben.«
»Mit wem hat er denn gespielt?«
»Mit dem Nagel Pius, dem Amend Klaus und dem Wastl Hörwangl. Das sind alles Tegernseer. Im Bräustüberl drunten. Mit denen hat er auch jeden Mittwoch seinen Stammtisch â also gehabt. Und auch sonst war er nicht gerade selten dort.« Anne beschloss, diesen drei Stammtischbrüdern möglichst bald einen Besuch abzustatten.
Evi Fichtner ging zur ersten Kuh, zog die Pfropfen vom Euter und trug die Milch in den Milchraum. Anne folgte ihr. Die Bäuerin goss die weiÃe Flüssigkeit in den groÃen Kessel. Fliegen schwirrten im Raum umher. In das friedliche Plätschern der Milch hinein fragte Anne erneut: »Frau Fichtner, war Ihre Ehe glücklich?«
»Ja, was fragen Sie mich eigentlich für Sachen? Ehe glücklich? Leben glücklich? Geht Sie das was an? Das Leben ist halt so, wie es ist. Ein steirischer Bauer, der wo eine Weltmaschine gebaut hat, hat einmal gesagt: âºMit Müh und Plag habâ ich gebaut für das so kurze Leben. Gott wird mich in der andern Welt eine schönere Arbeit geben.â¹ So wie der das gesagt hat, so gilt das auch für uns. Man strengt sich an, man erträgtâs Leben, weilâs der Herrgott verlangt und weil man halt den Hof hat und hierhergâhört, irgendwo. Was hättâ man denn sonst machen sollen?«
»Frau Fichtner, Sie haben meine Frage nicht beantwortet: War Ihre Ehe glücklich?«
»Glück!«, sagte Evi Fichtner verächtlich. »Das ist etwas Neumodisches aus dem Fernsehen. Das hat auf einem kleinen Hof wie dem unseren keinen Platz nicht.«
Anne kam sich wie in eine andere Zeit versetzt vor. Gleichzeitig war ihr klar, dass sie so nicht weiterkommen würde. Sie hatte aber einen Verdacht und fand, dass sie genügend Geduld und Einfühlungsvermögen bewiesen hatte. Frau Fichtner würde immer wieder ausweichen. Was konnte Ferdinand Fichtner schon gemacht haben, wenn er häufig und länger geschäftlich unterwegs gewesen war und in diesen Zeiten zudem viel Geld verbraucht hatte? So leid es Anne tat, Frau Fichtners Schonzeit war jetzt vorbei. Deshalb zündete Anne Stufe drei: »Wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Mann geschlafen?«
Evi Fichtner sah sie, schockiert über die Unverhohlenheit des Angriffs, bestürzt an und antwortete reflexartig: »Da war schon lang nix mehr.«
Damit hatte Anne gerechnet. Jetzt galt es, nicht lockerzulassen. »Könnte es sein, dass Ihr Mann eine Geliebte hatte?« Sofort bereute Anne die Direktheit ihrer Frage. Dass Evi Fichtner daraufhin nämlich unvermittelt zusammenbrach, hatte Anne nicht vorausgesehen. Hätte sie es voraussehen müssen? Mitten hinein in das heftige Schluchzen, das sich bald zu einem lauten Wehklagen ausweitete, platzte das Krachen der Stalltür, die gegen die Wand knallte, und eine barsche Männerstimme rief: »Ja Kruzefix, was ist denn hier los?«
Der Mann war Evi Fichtners zweitgeborener Sohn Hannes. Er war an die zwei Meter groÃ, doch viel mehr konnte Anne wegen des Zwielichts, aus dem er zu den Frauen trat, nicht sehen.
Am nächsten Morgen stand Anne sogar schon vor Lisa auf, die ein bisschen zu spät ins Bett gekommen war, und ging im Pyjama, die Augen noch voller Schlaf, auf die Terrasse, um still und nur für sich den Blick auf den See und den dahinter liegenden Semmelberg zu genieÃen. Konnte das wirklich sein, dass sie jetzt hier wohnen durfte? Mit ihrer kleinen, netten, für hiesige Verhältnisse ein bisschen merkwürdig zusammengewürfelten Familie? War das alles nur ein Traum? Oder war die Erlaubnis, mit Bernhard und Lisa in diesem zauberhaften Häuschen direkt am See und in diesem wunderbaren Naturparadies zu wohnen, der Ausgleich für die schrecklichen Jahre, die mit ihrem sechzehnten Geburtstag begonnen hatten? Anne war sich nicht sicher, ob es im Leben eine Instanz gab, die für ausgleichende Gerechtigkeit sorgte. Sie glaubte aber, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es einem selbst gut ging, wenn man andere gut behandelte, gröÃer war, als wenn
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