Tegernseer Seilschaften
Herr Schimmler, und Anne zog rasch das Gartentor hinter sich zu.
Im Hausflur kam ihr schon Bernhard entgegen. Er sah jämmerlich aus.
»Ja, was ist denn mit dir los?«, fragte Anne mitfühlend.
»Ich glaube, das ist jetzt wieder der Gehirntumor. Da haben die was übersehen. Ich habe so ein schreckliches Druckgefühl, meine Kopfhaut, die kribbelt und klopft und tut weh.«
»Ich glaube nicht, dass du einen Gehirntumor hast«, sagte Anne äuÃerlich ruhig. Innerlich kämpfte sie gegen ihre aufsteigende Wut, denn ihr war klar, dass ihr Freund gerade wieder einen seiner hypochondrischen Anfälle hatte.
Diese Ausbrüche waren eine schwere Belastung für ihre Beziehung. Ehe sie Bernhard kennenlernte, hatte sie gedacht, dass Hypochondrie davon komme, dass man sich den Kopf zu sehr über sich selbst zerbreche und dass einen eine gesunde Portion Menschenverstand davor schützen könne. SchlieÃlich sagten viele Menschen von sich, sie seien Hypochonder; zudem bekannten sich auch berühmte und gar nicht krank wirkende, sondern höchstens etwas überdrehte Persönlichkeiten dazu, hypochondrisch veranlagt zu sein. Sogar Harald Schmidt hatte das von sich behauptet.
Doch seit Bernhard und sie sich ineinander verliebt hatten und sie im Laufe der Zeit mehrere Schübe dieser merkwürdigen psychischen Krankheit mitertragen hatte müssen, wusste sie, dass man über eine echte Hypochondrie keine SpäÃe machen sollte, da sie sich zum Psychoterror für alle Beteiligten auswachsen konnte. Das Krasse war, dass Bernhard nun von diesem Gedanken besessen war, ihr nicht etwa ein Theater vorspielte, sondern sich ganz sicher war, dass er einen Gehirntumor habe. Sie wusste, dass er sich erst von dieser Idee würde befreien können, wenn ihn ein Facharzt per Elektroenzephalogramm untersucht hätte und wenn auÃerdem die Ãberprüfungen seines Nervenwassers und seines Augenhintergrunds keine Befunde ergeben hätten. Bernhard hatte nämlich vor einem Jahr schon einmal geglaubt, einen Tumor zu haben, und sie hatte, gemeinsam mit ihm, alle Untersuchungsstadien durchlaufen. Aus ihren Gesprächen mit den ihn damals behandelnden Ãrzten hatte sie erfahren, dass Gehirntumoren zu den seltensten Krebserkrankungen überhaupt zählten. Dass also die Wahrscheinlichkeit, dass er jetzt an einem Tumor litt, gegen null tendierte, zumal er überhaupt nicht zur Risikogruppe gehörte. Doch von dem Psychotherapeuten, den Bernhard aufsuchte â nachdem er Wochen später auch noch schwere Magenprobleme mit Verdacht auf ein Magengeschwür und schlieÃlich Gedächtnis- und Orientierungsprobleme bekommen hatte, für die sich kein Grund finden lieàâ, wusste sie, dass es bei seinen wiederkehrenden Anfällen das Wichtigste war, den Ãngsten ganz praktisch zu begegnen.
Deshalb sagte sie nun: »Bernhard, wir haben dich doch erst vor einem halben Jahr komplett durchchecken lassen. Wir wissen doch, woher das kommt. Magst du nicht ein bisschen laufen gehen?« Er wich ihrem Blick aus.
»Doktor Kaul hat gesagt, dass du dich bewegen sollst, wenn deine Angstzustände wiederkommen«, beharrte sie.
»Anne«, sagte Bernhard vorwurfsvoll, »dieses Mal ist es keine Hypochondrie. Ich spüre mit hundertprozentiger Sicherheit, dass da in meinem Kopf etwas wächst. Diese Kopfschmerzen sind wahnsinnig. AuÃerdem ist mir schwindlig, ich habe heute auch schon gekotzt.«
»Wo ist denn Lisa? Die ist doch auch krank, oder?«, versuchte Anne ein Ablenkungsmanöver.
»Also Anne, ein Gehirntumor ist ja wohl mehr als eine Krankheit!« Jetzt war Bernhard empört. »Das ist der Tod!«
»Aber Lisa ist ein Kind, Bernhard«, sagte Anne, um sich dann etwas hilflos abzuwenden. »Lisaaa?« Aus dem ersten Stock erwiderte ein leises Stimmchen den Ruf.
»Anne, es kann sein, dass ich nicht mehr lange zu leben habe!«, sagte Bernhard nun vorwurfsvoll.
»Das glaube ich nicht«, antwortete Anne ruhig. »Ruf deinen Therapeuten an, Bernhard.«
»Ich brauche jetzt keinen Therapeuten, ich brauche einen Tumorspezialisten. Und zwar möglichst schnell, bei Gehirntumoren zählt jeder Tag. Das weiÃt du ganz genau.«
Anne schüttelte verzweifelt den Kopf und eilte in groÃen Schritten die Treppe hinauf zu ihrer Tochter.
Lisa lag im Bett und war ganz blass. Anne legte ihr die Hand auf die Stirn. »Du hast Fieber, meine
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