Tegernseer Seilschaften
gekratzt hatte, lächelte er jetzt erleichtert.
»Okay, dann erzähle ich dir das jetzt. Aber das bleibt unter uns.« Kastner nickte.
»Mein Vater war Richter«, sagte Anne ruhig. »Er wurde im Gerichtssaal erschossen, von einem, den er ein paar Wochen früher verurteilt hatte.« Anne sah Kastner in die Augen, sodass ihm ganz schwummrig wurde. »Der Täter hätte gar nicht in das Gerichtsgebäude hineingelangen dürfen, geschweige denn mit einer geladenen Waffe.«
Ein kichernder Trupp Teenies zog am Streifenwagen vorbei. Die Mädchen trugen bauchfrei, die Jungs Pickel. »Ich war damals zwölf.« Kastner spürte Annes Blick bis in die Zehenspitzen seiner in schwarzen Lederschuhen steckenden FüÃe â in der linken Socke war ein Loch. »Und ich habe mir geschworen, Polizistin zu werden, um dafür zu sorgen, dass alle Menschen auf dieser Welt, alle, die Schutz verdienen, dass die, soweit es in meiner Macht steht, von mir vor solchen Verbrechern geschützt werden.« Anne hatte das gar nicht so pathetisch sagen wollen, aber jetzt war es drauÃen.
»Das verstehe ich«, presste Kastner heraus. »Das ist sicher schlimm, wenn man seinen Vater so früh verliert.« Dann beschloss er, besser nichts mehr zu sagen, weil er nicht genau wusste, was man in so einer Situation Passendes sagen konnte. Nachdem beide eine Weile schweigend weitergekaut hatten, fiel ihm doch noch etwas Unverfängliches ein. »Magst du was trinken?«
Anne nickte. Dann beobachteten beide, wie ein Teeniejunge ein Teeniemädchen in die Seite zwickte.
»Gerade Kinder verdienen unseren Schutz«, sagte Anne nun und dachte kurz an Lisa. »Aber jetzt sollten wir uns auf den Fichtner-Fall konzentrieren. Wir müssen unbedingt auch den zweiten Fichtner-Sohn verhören, auÃerdem Nachbarn, Bekannte und so weiter, das volle Programm.«
Doch daraus wurde an diesem Tag nichts mehr, denn es war Freitag, was bedeutete, dass man in der Bad Wiesseer Polizeidienststelle vor allem damit beschäftigt war, den heftigen Wochenendverkehr in den Griff zu bekommen.
Nach dem Wochenende, an dem Sepp Kastner auf seine Mutter derart aufgescheucht gewirkt hatte, dass sie ihn sogar am Sonntag zwei Stunden hatte Holz hacken lassen, stürmte der für Anne entflammte Kollege in das Büro seines Chefs und platzte begeistert heraus: »Ich bin mit der Angelina jetzt per Du, Kurt! Sie hatâs von sich aus angeboten. Das ist die halbe Miete! Die Angelina vom Tegernsee mag mich! Das wird was!«
»Sepp, du bist ein Depp«, sagte Nonnenmacher unwirsch. Der Himmel hatte sich gestern Abend plötzlich zugezogen, und der geplante erste Grillabend des Jahres war geplatzt. Vor lauter Unzufriedenheit hatte Nonnenmacher sich, nachdem er die Gäste ausgeladen hatte, vier Tegernseer Helle genehmigt, weshalb er sich heute nicht taufrisch wie der junge Tegernseer Frühlingsmorgen fühlte, sondern eher neblig-trüb wie einer jener sumpfig-feuchten Herbsttage, die es am See schon auch ab und an mal gab. Hinzu kam, dass sich sein Magen zwar still verhielt, aber von unten her gewaltig säuerte.
»Warum bin ich ein Depp?«, fragte Kastner.
»Weil du mit allen hier in der Dienststelle per Du bist. Das heiÃt doch gar nichts. Jetzt begreif es halt endlich, Sepp, diese Frau ist für dich zu schön, zu intelligent und zu ⦠guten Morgen, Frau Loop.« Anne hatte soeben das Zimmer betreten.
»Guten Morgen«, antwortete sie. »Ich wollte nur fragen, ob ich gleich wieder gehen kann, weil meine Tochter krank ist, diese ScheiÃgrippe, die gerade umgeht, und mein Freund auch, und ich kann die nicht allein lassen, also vor allem meine Tochter â und ob ich von zu Hause aus arbeiten kann?«
»Das ist zwar ungünstig, weil mir heute den Verkehr in Kreuth kontrollieren wollten, was bekanntlich von zu Hause aus schlecht geht. AuÃerdem wollten mir ermitteln, welche jugendlichen Randalierer die Parkbank und den Wegweiser am WeiÃachdamm in die Rottach geworfen haben. Aber soweit ich weiÃ, ist es Ihr gutes Recht, wegen eines pflegebedürftigen Kindes zu Hause zu bleiben, oder gibtâs da nicht irgendeine Vorschrift, die Ihnen das sowieso erlaubt?«
»Ja«, meinte Anne, sie habe hier aber nicht gleich mit lauter Vorschriften kommen wollen, aber wenn es so sei, dann gehe sie gleich wieder. Bis â so hoffe sie â morgen.
Als Anne drauÃen war,
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