Tegernseer Seilschaften
einer zu seinem Grund gehörenden Wiese landete, ohne dafür eine Genehmigung zu haben, wurde von den zuständigen Behörden gemäà dem tegernseerischen Lebensmotto vom »leben und leben lassen« geduldet, obwohl es immer wieder Anläufe engagierter Umweltschützer gab, die dem Flugbetrieb auf dem Grundnerhof einen Riegel vorschieben wollten. In den Achtzigerjahren war sogar einmal ein Trupp grüner Aktivisten, der über Nacht Kürschners Helikopterlandeplatz mit Spitzhacken in einen Kartoffelacker hatte verwandeln wollen, von ein paar Wiesseer Bauern, die die Aktion auf dem Nachhauseweg vom Wirtshaus bemerkt hatten, vertrieben worden. Kürschner weilte zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Tal, aber die Wiesseer Bauern schlugen aus schlichter Dorfraison und ganz auf eigene Faust die etwas verhungert aussehenden »Körnerfresser« mit ihren schnell herbeigeholten Bulldogs in die Flucht. Hinterher hieà es, dass die Bauern nicht nur wegen der Traktoren eine gewisse Ãberlegenheit verspürt hätten, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sie vor der kriegerischen Aktion gegen die Jutetaschen-BarfuÃtänzer gemeinsam mehr als ein Fass Tegernseer zu sich genommen hatten. Wie viele Liter das Fass enthalten hatte, darüber kursierten die unterschiedlichsten Gerüchte. Fakt war, dass fortan niemand mehr etwas daran auszusetzen hatte, dass Kürschner mit seinem Hubschrauber landete, wann immer er wollte.
Die Solidarität mit dem Milliardär rührte daher, dass jeder wusste, dass Kürschner die Renovierung der Wiesseer Kirche finanziert, der Polizei ein repräsentatives Patrouillenboot gestiftet und die Entstehung des Olaf-Gulbransson-Museums gefördert hatte und er zudem regelmäÃig allen Kindergärten am Tegernsee kräftige Finanzspritzen gab. Viele dieser Spenden liefen nicht über offizielle Konten, sondern unter der Hand. Wenn es darum ging, Leute gefügig zu machen, unterschied sich Kürschner nicht von Siemens oder anderen GroÃkonzernen. Ohne Schmiergeld keine groÃen Geschäfte, so in etwa lautete die Ansicht der meisten deutschen Topmanager, die an den wirklich groÃen Rädern der Wirtschaft drehten.
Auch Wastl Hörwangl, Klaus Amend, Pius Nagel und Ferdinand Fichtner hatten viele Jahre lang zu den Anhängern Kürschners gezählt â bis eben zu diesem einen Vorfall, weswegen sie nun im Tegernseer Bräustüberl ins Raunen geraten waren.
Anne war direkt vom Bräustüberl zum Kindergarten gejoggt und hatte ihre kranke Tochter abgeholt. Lisa sah blass aus. Ein Griff an ihre Stirn sagte Anne, dass das Mädchen tatsächlich Fieber hatte. Dass die Kindergärtnerin Anne Vorwürfe machte, weil sie so verantwortungslos gewesen war, ein krankes Kind in »ihre Einrichtung« zu schicken, war völlig unnötig. Anne plagte auch so schon ein gewaltig schlechtes Gewissen. Aber was hätte sie denn tun sollen? Bernhard hatte sie nun mal im Stich gelassen, und sie musste in diesem Mordfall weiterkommen. Musste sie? Ja, sie musste.
Als Anne Lisa durch die kleinen SträÃchen Tegernsees nach Hause trug, überlegte sie, ob sie nicht vielleicht einen Tick zu ehrgeizig in ihr neues Leben gestartet war. Anscheinend war es nur sie, die Zugereiste, die es umtrieb, dass Ferdinand Fichtner nicht eines natürlichen Todes gestorben sein könnte. Alle anderen â angefangen bei Annes Chef Nonnenmacher über Fichtners Ehefrau und Söhne bis hin zu seinen Stammtischbrüdern â schienen sich längst mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass Fichtner nicht mehr war und dass er freiwillig aus dem Leben geschieden war. Anne war sich bewusst, dass es auch eine Lebenskunst sein konnte, gewisse Dinge einfach als gegeben zu akzeptieren. Auch spürte sie, dass sie, wollte sie sich hier in dieser Landidylle wohlfühlen, ihr Tempo ein wenig würde zurückfahren müssen. Man lebte hier nach dem Motto »weniger ist mehr«. AuÃerdem hatte man hier offensichtlich während mehrerer Jahrhunderte entbehrungsreichen Lebens â die Zeit des Reichtums hatte für die Tegernseer erst und zunächst recht zaghaft Anfang des neunzehnten Jahrhunderts mit den Besuchen des bayerischen Königs begonnen â gelernt, sich auch mit unangenehmen Situationen abzufinden. Aber Anne war sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, ihren Drang, Dinge zu bewegen und Missstände zu beseitigen, auf ein
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