Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tegernseer Seilschaften

Tegernseer Seilschaften

Titel: Tegernseer Seilschaften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
Vom Netzwerk:
auch Anne in der Zwischenzeit nicht mehr wahrscheinlich. Der Bauer Fichtner hatte sicherlich zu jenen in Tegernsee gehört, für die die alten Werte Bescheidenheit, Sparsamkeit und Treue noch etwas zählten. Ob das auch für die Ehrlichkeit galt? Anne tendierte dazu, diese Frage zu verneinen, denn zweifellos hatte Fichtner ein Geheimnis gehütet, eines, das tatsächlich nicht so leicht zu lüften war.
    Das Herzogliche Bräustüberl in Tegernsee ist ein soziologisches Phänomen. Denn was hier in der direkt am Seeufer gelegenen Gaststätte funktioniert, wäre andernorts nicht denkbar. Beherbergen die uralten Klostermauern doch einige Widersprüche, die nur dank der Qualität des hier hergestellten Gerstensaftes zu bajuwarischer Harmonie gebracht werden können: Die weitläufigen Säle des mit urigen Kellergewölben ausgestatteten Wirtshauses werden nämlich Tag für Tag von unzähligen Reisebussen bayernhungriger Urlauber angefahren. Anderswo würde das zu fluchtartigen Reaktionen bei den einheimischen Biertrinkern führen, nicht jedoch in dem ehemaligen Benediktinerkloster. Trotz der vielen Auswärtigen halten sich im Bräustüberl – das natürlich längst kein Stüberl mehr ist – über zwanzig Stammtische. Manche Stammtischbrüder treffen sich hier schon seit einem halben Jahrhundert zum Politisieren, Schwadronieren und manchmal auch Intrigieren. Gelegentlich mischt sich sogar echte Prominenz unters Volk, was dem Volk aber ziemlich »wurscht« ist. Zur Liberalitas Bavariae gehört es auch, dass man einer Sabine Christiansen, einer Andrea Sawatzki oder einem Hansi Hinterseer am Nachbartisch seine Ruhe lässt.
    Das Auftauchen solcher Berühmtheiten hatten auch der Bauer Pius Nagel, der Bootsführer Klaus Amend und der Fischer Wastl Hörwangl schon viele Male mit tegernseerischer Lässigkeit ertragen – und so störte es die drei auch nicht, als sich am helllichten Vormittag eine junge Frau im Laufdress an ihren Tisch setzte, die dieser Angelina Jolie aus Hollywood verdammt ähnlich sah.
    Anne war allerdings nicht so entspannt wie die drei Stammtischbrüder des verstorbenen Ferdinand Fichtner. Dies lag daran, dass sie von Bernhard nach wie vor keine Nachricht erhalten hatte. Zudem plagte sie aus zweierlei Gründen ein schlechtes Gewissen: Zum einen hatte sie, um arbeiten zu können, Lisa in den Kindergarten gebracht, obwohl sie den Eindruck hatte, dass diese noch nicht ganz gesund war. Zu ihrer Rechtfertigung konnte Anne sich nur sagen, dass ihre Tochter unbedingt in den Kindergarten gewollt hatte. Außerdem wollte sie selbst im Fall Fichtner wenigstens einen kleinen Schritt weiterkommen, und das würde ihr ohne Lisa leichter fallen. Zum anderen hatte Anne gegenüber ihren Arbeitskollegen Nonnenmacher und Kastner ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren Ausflug ins Bräustüberl quasi nebenbei dazu verwendete, etwas zu tun, was ihr Spaß machte: Joggen. Zum ersten Mal, seit sie nach Tegernsee gezogen war, war sie die Strecke von ihrem Garten aus direkt am See entlang, unterhalb des Ludwig-Ganghofer-Hauses und bei der Herzoglichen Fischerei vorbei, bis zum Bräustüberl gelaufen und hatte dieses kurze Gefühl der Freiheit richtig genossen.
    Auch wenn die drei Männer im Brauhaus schon einiges erlebt hatten, so waren sie doch erstaunt, dass sich da mir nichts dir nichts diese junge Frau zu ihnen setzte, obwohl doch an vielen anderen Tischen noch ein Platz frei war und obwohl man an diesem sonnigen Tag auch gut draußen im Biergarten sitzen konnte. Die Überraschung hatte die drei schlagartig zum Schweigen gebracht.
    Â»Guten Tag«, sagte Anne. Sie hatte das Stammtischtrio mithilfe der Bedienung ausfindig gemacht.
    Â»Grüß Gott«, erwiderten der Landwirt, der Fischer und der Bootsführer beinahe im Chor und schauten die »Klassefrau«, wie sie sich insgeheim dachten, erwartungsvoll an.
    Â»Mein Name ist Anne Loop. Ich bin Polizistin und würde Ihnen gerne einige Fragen zu Ferdinand Fichtner stellen. Der gehörte doch auch zu Ihrem Stammtisch, oder?« Die drei nickten und hätten sich jetzt vielleicht doch lieber die Frau Christiansen oder den Herrn Hinterseer an den Tisch gewünscht. Die Bedienung kam, und Anne bestellte sich ein Helles, was die drei mit anerkennendem Nicken quittierten.
    Â»Das trinkt man doch hier so, an einem Stammtisch, oder etwa nicht?«, fragte

Weitere Kostenlose Bücher