Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
Straftäter? Du hast gerade gesagt, Kiara wüsste nichts Genaues. Diese Vergewaltigungsgeschichte sei ein Gerücht, dem sie nachgehen will“, entgegnete der alte Zinnleben gleichmütig. „Und selbst wenn etwas dran ist, heißt das noch lange nicht, dass er auch in ihrem Fall als Täter infrage kommt. Berlin ist groß und die Gefängnisse voll von Verbrechern. Zu voll.“ Zinnleben rümpfte die Nase. „Sie bekommen Freigang, weil kein Platz mehr ist, so dass sie wieder Straftaten begehen können. Es ist ein unbefriedigendes System.“
Diese Einsicht in die Gepflogenheiten des Berliner Strafvollzugs half Holger nicht unbedingt weiter. Doch der Wille, Kiara zu helfen, gab ihm sofort eine neue Idee ein.
„Du triffst dich doch mit anderen Schöffen zum monatlichen Stammtisch. Sind da nicht auch Polizisten und Richter dabei? Oder du bittest einfach einen der Richter, in den Akten mal nach einem Nieburg zu forschen. Solange wie du schon bei Gericht eingesetzt wirst, kennst du bestimmt jemanden, der das für dich tun würde. Nicht mit der Tür ins Haus, sondern so ganz nebenbei als Bitte unter Gleichgesinnten“, beharrte er. „Bitte, versuche es wenigstens! Aber Kiaras Namen darfst du auf keinen Fall erwähnen! Sie würde mich umbringen. Oder Schlimmeres.“
Statt einer Antwort schob der Ältere die beladene Schubkarre zu einem Komposthaufen am Zaun. Auf dem Rückweg zu den Beeten warf er nachdenklich einen Blick über die kleine Parzelle, die er mit Holger bewirtschaftete. Sie gehörte zu einer Gartensparte und lag in Sichtweite einer Plattenbau-Siedlung, in der er mit seiner Frau lebte. Die Nachbarn im Haus, besonders die mit kleinen Kindern, wie er damals, hatten sich um so ein Grundstückchen gerissen, um von Zeit zu Zeit der Betonwüste zu entkommen. Zwar war der Sandkasten, den er früher für Klein-Holger angelegt hatte, inzwischen verwaist, aber dafür verband Vater und Sohn noch das gemeinsame Interesse an der Gartenarbeit. So wie im Krankenhaus die Patienten, pflegte der Junior die Blumen- und Gemüsebeete. Mit sichtbarem Erfolg.
Der Fünfzigjährige lächelte in sich hinein. So manchen Strauß hatte Holger heimlich für das Mädchen abgezweigt, das er seit langem verehrte. Doch schien der Funke bei ihr noch nicht übergesprungen zu sein. Schade eigentlich.
Auch er mochte Kiara, hielt sie für jemanden, der mit beiden Beinen fest im Leben stand und eine passende Ergänzung für seinen gutmütigen, aber nicht allzu durchsetzungskräftigen Sohn abgeben würde. Außerdem war sie ausgesprochen hübsch. Er konnte Holger also nicht verdenken, wenn er so hartnäckig am Ball blieb, um dem Mädchen zu helfen.
Zinnleben bemerkte, wie Holger den Rechen an die Wand der kleinen Holzlaube lehnte und erwartungsvoll zu ihm herüberblickte.
Nachdenklich zuckte er die Schultern. Wenn es in seiner Macht liegen würde, der Junge bekäme seine Auskünfte, aber gegenwärtig sah er keinen Weg, an die benötigten Informationen zu kommen. Wie sollte er sein Interesse an der Person dieses Dirk Nieburg begründen? Soweit er verstanden hatte, hatte es nach dem Vorfall damals nicht einmal eine Anzeige von Kiara – und damit auch keine Untersuchung – gegeben. Ihm blieb wirklich nur eine allgemeine Frage zu einem Mann, von dem nicht einmal sicher war, ob das Gerücht um seine Verurteilung stimmte. Falls er überhaupt hier in Berlin verurteilt worden war. Wenn es das Gericht eines anderen Bundeslandes getan hatte, sah es noch schlechter aus, an die Informationen zu kommen. Eine verfahrene Kiste.
Zinnleben schob die Karre in den Verschlag neben der Laube, dann schleppte er verschiedene Glasplatten hinaus. Holger hatte sich inzwischen mit einer Hacke bewaffnet und lockerte den Boden, auf dem sie das Frühbeet anlegen wollten, um aus Samen Stecklinge heranzuzüchten. Als er damit fertig war, begannen sie gemeinsam, die gläserne Überdachung aufzustellen.
Eine Weile arbeiteten sie schweigend nebeneinander. Obwohl Holger sich bemühte, es sich nicht anmerken zu lassen, bemerkte Zinnleben, dass der Junge nicht bei der Sache war. Schließlich sprang Holger ungeduldig auf.
„Papa, kannst du wirklich gar nichts tun? Wie soll ich das Kiara beibringen? Die kommt auf den Gedanken und spricht diesen Arzt kurzerhand darauf an. Ich muss verhindern, dass sie eine Dummheit macht und sich in Gefahr begibt. – Lieber tue ich es!“ Holger ballte die Hände zu Fäusten. „Ich werde ihn abends vor dem Club abfangen und ihn zwingen, die Wahrheit
Weitere Kostenlose Bücher