Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
schlecht geschriebener Aufsatz, den es zu korrigieren galt.
Bei diesem Vergleich fiel ihr ein, dass sie sich am gestrigen Abend, vom Rotwein beflügelt, ihren ganzen Zorn auf den treulosen Ehemann von der Seele geschrieben hatte. Erst hemmungslos wütend, später nur noch verzweifelt. Es musste eine sehr lange Epistel geworden sein. An Einzelheiten konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Nach dem vergeblichen Versuch, doch noch etwas Schlaf zu finden, stieg Myrtel aus dem Bett. Aus dem Medizinschränkchen im Bad holte sie eine Tablette gegen die Eisenschmiede, die in ihrem Kopf hämmerte, danach schlich sie sich ins Wohnzimmer.
Wie still und leer ihr die Wohnung vorkam. Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen.
Da lag er, der Brief an Dieter. Sechs Seiten lang, mit einigen Passagen, die kaum lesbar waren und verwischt aussahen, als seien die Blätter einem Regenguss ausgeliefert gewesen. Das letzte Blatt lag auf dem Boden. Sie hob es auf und las unwillkürlich die letzten Absätze.
„Zum Schluss habe ich wirklich nicht mehr viel von Dir erwartet, trotzdem hat mich diese kaltschnäuzige Art, mit der du mich verlassen hast und zu dieser Frau gezogen bist, tief verletzt. ‚Bis dass der Tod uns scheidet‘ haben wir uns einmal geschworen, ich im weißen Spitzenkleid, du in dem geliehenen Anzug. Wie hältst Du es jetzt mit diesem Versprechen?“
In Gedanken an diesen schönsten Tag ihres Lebens musste Myrtel schwer schlucken. Wie ausdauernd er damals um sie geworben und wie stolz er sie seinen Freunden vorgestellt hatte.
‚Eine echte Rothaarige, die hat Feuer im Blut und Pfeffer im Hintern‘, hatte er lauthals verkündet. In trauter Zweisamkeit hatte er es geliebt, ihre dichten, schimmernden, bis zur Taille reichenden Haare zu streicheln, wenn sie nackt nebeneinander im Bett lagen.
Aus. Vorbei. Nach der ersten Krebstherapie war von der rotbraunen Fülle kaum mehr als die Hälfte übrig geblieben. Mit Entsetzen erinnerte sich Myrtel daran, wie sich die Strähnen von der Kopfhaut gelöst hatten. Einfach so. Sie hatte kaum mehr gewagt, sich das Haar zu bürsten. Damit es nicht so auffiel, hatte sie sich zunächst für eine Perücke, später, als es sich etwas erholt hatte und nachgewachsen war, für eine Kurzhaarfrisur entschieden. So wie sie sie heute noch trug.
Erneut suchten ihre Augen den Brief. Hatte sie das Letzte wirklich geschrieben? Darauf konnte sie sich nicht mehr besinnen. Aber zweifellos musste sie es getan haben.
„...Bald bist du frei, denn ohne Dich stehe ich das alles nicht noch einmal durch. Die Entscheidung über mein Leben liegt bei Dir...“
Nein! Myrtel griff nach dem Bogen und knüllte ihn heftig zusammen. Diesen Brief würde Dieter nie zu Gesicht bekommen. Die Entscheidung über ihr Leben lag bei ihr! Wie hatte sie sich so klein machen können, ihm eine solche Macht über sich einzuräumen?
Entschlossen zerriss sie auch die anderen Blätter und ließ sie auf den Teppich gleiten.
Sie war fertig mit ihm. Endgültig fertig. Heute nach der Arbeit würde sie die Kartons mit seinen restlichen Sachen in den Keller stellen, ganz egal, ob er sie jemals abholte oder nicht. Nichts in dieser Wohnung sollte mehr an ihn erinnern, gar nichts.
Und ihm soll nichts bleiben, was ihn an mich erinnert, wenn ich den Kampf gegen die Krankheit verloren habe, schwor sie sich. Er hat es nicht verdient!
Ihr fiel ein, dass sie schon vor Wochen einen Termin beim Notar vereinbart hatte, um über die wenigen Habseligkeiten, die sie besaß, zu verfügen. Dieter hatte das zwar für überflüssig gehalten, da er außer einem Ring, der innerhalb der weiblichen Linie ihrer Familie weitergegeben wurde, alles bekommen würde. Aber sie hatte darauf bestanden, weil alles seine Ordnung haben sollte.
Die einsame Frau verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln. Er würde sich wundern, wenn er das Testament eröffnen ließ! Wann war der Termin doch gleich? An diesem Vormittag, wenn sie sich richtig erinnerte.
Sie eilte an den Schreibtisch, auf dem ihr Timeplaner lag und blätterte darin herum. Der Blick auf die aktuelle Woche bestätigte ihr, dass sie für heute vor der Arbeit im „Pour Elles“ beim Notar erscheinen sollte. Um 9 Uhr. Bis dahin war es noch eine Ewigkeit hin!
Myrtel begann zu frieren. In der Hoffnung, doch noch ein wenig Ruhe zu finden, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und zog sich die Bettdecke über den Kopf.
Als ein Sonnenstrahl ihre Nase kitzelte, fuhr Myrtel hektisch auf. Jetzt hatte sie doch
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