Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
Alter? Das war ja wohl die Höhe! Was bildeten sich diese Jungspunde ein!? Obwohl gerade Sechzig geworden, fühlte sich der Restaurator bedeutend jünger – meistens jedenfalls. Der tägliche Blick in den Spiegel bestätigte ihm sein gutes Aussehen. Groß und breitschultrig mit welligem, bis auf die Schultern fallendem, dunkelblondem Haar und einem gepflegten Vollbart (dass er beides ständig nachfärbte, brauchte niemand zu wissen), fand er sich bedeutend aussehend. Auf seine langen, feingliedrigen Finger bildete er sich nicht wenig ein – Künstlerhände eben. Und auch sonst fand er nichts an sich auszusetzen. Wenn nur seine Gesundheit etwas robuster wäre.
Ein heftiges Stechen im Rücken brachte Felix in die Realität zurück. Er sah auf die Uhr. Verdammt, wenn er sich nicht beeilte, schlossen die Arztpraxen. Auf keinen Fall wollte er sich in einem Krankenhaus vorstellen oder die kommende Nacht mit Schmerzmitteln überstehen müssen.
Mühsam begann er, den Gang zwischen den Bänken entlang zum Ausgang zu humpeln. Auf halbem Weg drehte er sich noch einmal ächzend zu seinen Angestellten um.
„Gottlieb, die Ausbesserungsarbeiten am Marienbild sind abgeschlossen, das bisschen, was an der Krippe und den Tieren im Hintergrund noch zu machen ist, können Sie kaum versauen. Nehmen Sie sich den Ochsen vor, dazu werden Ihre Fähigkeiten wohl gerade ausreichen“, rief er dem Altgesellen zu, der, wie die anderen drei, jede Bewegung des Chefs aufmerksam verfolgte. „An die ‚Kreuzigung‘ und die ‚Himmelfahrt‘ geht ohne meinen Segen keiner ran. Ich verlasse mich darauf, dass Sie alles im Griff haben. – Und spannen Sie die faule Bande tüchtig ein. Die sollen arbeiten und nicht so viel qualmen. Das ist teuer und noch dazu ungesund!“
Er winkte dem Praktikanten, ihm zu folgen. „Sie werden mich fahren, erst zum Arzt und dann nach Hause. Hier stehen Sie sowieso nur herum“, bestimmte er und warf dem verblüfften jungen Mann den Autoschlüssel zu.
Kaum hatte sich das Kirchenportal knarrend hinter den beiden geschlossen, sahen sich die Zurückgebliebenen an.
„Na los, Charly, ran an die Strohhalme! Ich denke, ich werde den Ochsen in einen feurig schnaubenden Stier verwandeln, dann kriegt der Alte zu seinem Hexenschuss noch einen Herzinfarkt“, lästerte Gottlieb, der sich – nicht zum ersten Mal – über die Geringschätzigkeit geärgert hatte, mit der ihn Altmühl behandelte. „Bis die Farben genug getrocknet sind, kann es noch Stunden dauern. Vor morgen wird das also nichts mit dem Konservieren“, urteilte der Altgeselle, nachdem er selbst auf die Leiter gestiegen und die Retusche-Arbeiten seines Chefs vorsichtig an einer Stelle mit der Fingerkuppe geprüft hatte. Zum Vergnügen von Thilo und Charly stöhnte er beim Abstieg laut auf und jammerte theatralisch: „Au weh, mein Kreuz. Ich habe es im Rücken. Helft mir von der Leiter, aber fasst mich ja nicht an, ihr Nichtskönner!“
„Was ist, machen wir uns an die Arbeit oder gehen wir erst noch eine rauchen?“, fragte Charly, während sich Thilo vor Lachen krümmte.
Während draußen das Motorengeräusch des Chef-Autos in der Ferne verklang, entschieden sie sich demokratisch für das Letztere.
II
Myrtel erwachte mit einem bohrenden Schmerz im Kopf, der sich von der rechten Schläfe über die Augenpartie bis zur linken Schläfe zog. Ihre Zunge und der Hals waren staubtrocken. Beim Versuch zu schlucken, musste sie würgen. Mechanisch griff sie nach der Wasserflasche auf ihrem Nachttisch. Zu fassen bekam sie jedoch die leere Weinflasche, die sie mit einem leisen Fluch auf den Bettvorleger fallen ließ. Der zweite Griff war erfolgreicher. Gierig ließ sie das Wasser die Kehle hinab rinnen.
Nach einem Blick auf den Wecker sank sie aufstöhnend in die Kissen zurück. Erst drei Uhr! Das bedeutete, der kurze Betäubungsschlaf, in den sie der Alkohol versetzt hatte, war bereits vorüber. Jetzt würde sie sich, wie in den vergangenen Nächten, hin und her wälzen und grübeln. Es gab einfach zu viele Dinge, mit denen sich ihr gemartertes Hirn beschäftigte. Die meisten unerfreulich wie das Thema Zukunft. Wie würde die aussehen? Hatte sie überhaupt noch eine? Ohne Dieter?
Obwohl sie sich eine dumme Gans schalt, brachte sie es einfach nicht fertig, sich von ihm zu lösen. Wie auch? Wen hatte sie denn sonst, auf den sie sich stützen konnte? Niemanden! Und die zweiundzwanzig gemeinsamen Jahre ließen sich doch nicht einfach ausradieren wie ein
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