Temptation: Weil du mich verführst
mit gepresster Stimme hervor und packte sie beim Ellbogen, als Francesca Anstalten machte, nach draußen zu laufen, um Ian in dieser qualvollen Situation beizustehen.
Hilflos standen die beiden Frauen da und sahen zu, wie die drei Pfleger die wild um sich schlagende und sich windende Kranke mit routinierten Bewegungen packten und zum Haus trugen. Als sie an Anne und Francesca vorbeihasteten, erhaschte sie einen Blick auf ihr Gesicht – eine verzerrte Grimmasse mit gefletschten Zähnen und Speichel, der ihr übers Kinn rann, die blauen Augen glasig und weit aufgerissen, als wären sie auf irgendetwas Albtraumhaftes geheftet, das nur sie allein sehen konnte.
O nein , dachte sie. Das war nicht Helen Noble. Unmöglich.
Eine Schwester kam, gefolgt von Dr. Epstein, den Gang entlanggehastet. Vorsichtig legten die Pfleger die tobende Helen auf dem Boden ab, damit die Schwester ihr eine Injektion verabreichen konnte.
Anne begann leise zu weinen, während sie zusah, wie die Pfleger ihre Tochter wegtrugen. Noch immer stumm vor Entsetzen, legte Francesca ihr den Arm um die Schultern.
»Ian«, rief sie, als sie ihn an der Seite seines Großvaters eintreten sah. Sie hatte ihn noch nie so bleich und mitgenommen gesehen.
Sein Blick war eisig.
»Wie kannst du es wagen hierherzukommen«, stieß er hervor – sein Mund und sein Kiefer waren so angespannt, dass sich seine Lippen kaum bewegten. Ihr Herz schien stehen zu bleiben. So hatte sie ihn noch nie gesehen – so außer sich, so zornig … und so verletzlich, nun da sein Innerstes nach außen gekehrt war. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie sagen sollte. Er würde ihr niemals verzeihen, dass sie unaufgefordert aufgetaucht war und ihn in einem der verwundbarsten Momente seines Lebens gesehen hatte.
»Ian«, begann sie.
Doch er schnitt ihr das Wort ab, indem er an ihr vorbei und hinaus auf den Korridor trat, durch den die Pfleger seine Mutter fortgetragen hatten. James warf seiner Frau einen tieftraurigen Blick zu und folgte ihm.
Anne nahm Francescas Hand, führte sie zu einem Stuhl und setzte sich neben sie. Von ihrer Vitalität und Energie, die Francesca so beeindruckt hatten, war plötzlich nichts mehr zu sehen.
»Sie dürfen Ian keinen Vorwurf machen«, sagte sie. »Er und Helen haben einen wunderschönen Vormittag verbracht, und jetzt ist … alles dahin. Natürlich ist er sehr betroffen deswegen.«
»Das verstehe ich auch«, erwiderte Francesca. »Ich hätte nicht herkommen dürfen. Ich hatte ja keine Ahnung …«
Geistesabwesend tätschelte Anne ihren Arm. »Diese Krankheit ist verheerend. Brutal. Sie hat uns alle hart getroffen, vor allem aber Ian. Von Kindesbeinen an musste er sich um Helen kümmern, weil es sonst niemanden gab, der das tun konnte. Als er eine Weile bei uns war und ein wenig Vertrauen zu mir gefasst hatte, hat er mir erzählt, er hätte sie ständig überwachen müssen, aus Angst, die Dorfbewohner könnten merken, wie verrückt sie ist, und sie in eine Anstalt einweisen und ihn ins Kinderheim stecken. Er hat in der ständigen Sorge gelebt, von ihr getrennt zu werden. Jeden Tag, jede Stunde. Er hatte kaum Zeit, zur Schule zu gehen, weil er sich ständig um Helen kümmern musste. Die Stadt, in der Helen gelandet ist – wir wissen bis heute nicht genau, wie sie heißt und wie unsere Tochter dort hingekommen ist –, war ziemlich abgeschieden und die Leute ein bisschen rückständig. In einer etwas größeren Stadt hätte sich bestimmt das Jugendamt eingeschaltet, weil Ian so gut wie nie am Unterricht teilgenommen hat. Aber so ist es ihm gelungen, Helens Krankheit all die Jahre geheim zu halten. Er wusste, wo sie ihr Geld aufbewahrt, und hat gelernt, sparsam damit umzugehen. Er hat kleinere Arbeiten im Dorf übernommen, irgendwelche Botengänge und Besorgungen, und nachdem die Leute erst einmal herausgefunden hatten, dass er ein Händchen für elektronische Geräte hat, haben sie ihm all ihre Sachen zum Reparieren gebracht. Er hat eingekauft, aufgeräumt, gekocht und dafür gesorgt, dass ihr kleines Haus so gemütlich wie möglich ist. Außerdem musste er eine ganze Reihe von Sicherheitsmaßnahmen treffen, weil Helen sich nicht nur sonderbar verhalten hat, sondern weil es während ihrer psychotischen Schübe auch immer wieder zu Gewaltausbrüchen kam, so wie Sie es gerade erlebt haben.« Anne stieß einen erschöpften Seufzer aus. »All das hat er für sie getan, dabei war er noch nicht einmal zehn Jahre alt, als wir ihn und Helen
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