Temptation: Weil du mich verführst
Stimme.
Anne und Dr. Epstein tauschten einen fragenden Blick.
»Wussten Sie das denn nicht?«
Mutlos schüttelte Francesca den Kopf.
»Aber Sie wissen doch wohl zumindest, dass meine Tochter hier untergebracht ist, oder?«
»Ihre … Tochter?«, wiederholte Francesca und spürte, wie sich alles um sie herum zu drehen begann. Mit einem Mal schien der lichtdurchflutete Eingangsbereich viel zu hell zu sein, als sei alles in einen surrealen Glanz getaucht. Hatte Mrs Hanson nicht erzählt, Ians Großeltern hätten nur ein Kind gehabt?
»Ja, meine Tochter. Helen. Ians Mutter. Er macht gerade einen Spaziergang mit ihr. Das haben wir nur dem Einsatz von Julia und ihren Leuten hier am Institut zu verdanken.« Anne bedachte die Ärztin mit einem warmherzigen Blick. »Im Moment hat Helen eine beeindruckend klare Phase. James, Ian und ich sind völlig aus dem Häuschen deswegen.«
»Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Immer ein Tag nach dem anderen … oder sogar eine Stunde nach der anderen«, schränkte Dr. Epstein ein.
Die beiden Frauen sahen Francesca an, und Anne legte ihre Hand auf ihren Arm. »Sie sind ja ganz blass, meine Liebe. Ich glaube, die junge Dame sollte sich hinsetzen, Dr. Epstein.«
»Aber natürlich. Wir bringen sie in mein Büro. Ich habe Orangensaft. Vielleicht ist Ihr Blutzucker zu niedrig. Soll ich Ihnen etwas zu essen bringen lassen?«
»Nein … nein, alles in Ordnung. Ians Mutter lebt noch?«, krächzte Francesca, die an nichts anderes denken konnte.
Ein Schatten glitt über Annes Züge. »Ja. Heute schon.«
»Aber Mrs Hanson … Sie hat mir erzählt, Ians Mutter sei schon vor Jahren gestorben.«
Anne seufzte. »Ja, das glaubt Eleanor.« Francesca brauchte mehrere Sekunden, bis der Groschen fiel: Eleanor war Mrs Hansons Vorname. »Als Helen wieder nach England zurückgekehrt war, haben James und ich beschlossen, dass es … die beste Lösung ist, vielleicht auch nur die einfachste?«, fügte sie nachdenklich hinzu. Francesca sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, die richtigen Worte für eine Entscheidung zu finden, die sie vor mehreren Jahrzehnten getroffen hatte, in einer Phase der Angst und des Kummers. »Diejenigen, die sie vor ihrer Erkrankung kannten, sollten sie lieber so in Erinnerung behalten, als mitansehen zu müssen, wie diese schreckliche Krankheit sie zerstört und ihr ihre Identität gestohlen hatte, ihre Seele. Vielleicht war es ein Fehler, vielleicht auch nicht. Fest steht, dass Ian nicht damit einverstanden war.«
»Na ja, er war ja erst zehn, als Helen nach England zurückgebracht wurde, oder?«
»Knapp«, antwortete Anne. »Aber wir haben ihm erst mit zwanzig gesagt, dass seine Mutter noch lebt und in einer Anstalt in East Sussex untergebracht ist. Damals war er längst alt genug, um zu begreifen, was uns zu dieser Entscheidung geführt hat, nämlich unser Wunsch, ihn zu beschützen. Ian dachte wie die meisten anderen die ganzen Jahre, seine Mutter sei tot.«
Die Stille hallte laut in Francescas Ohren wider.
»Bestimmt war er außer sich vor Wut, als er es erfahren hat«, platzte sie heraus.
»Oh, allerdings«, bemerkte Anne trocken. Francescas Unverblümtheit schien sie nicht im Mindesten zu irritieren. »Es war eine schwierige Zeit für James, Ian und mich. Ian war damals an der Universität in den Staaten und hat fast ein ganzes Jahr kein Wort mit uns geredet. Aber irgendwann haben wir uns ausgesöhnt.« Sie machte eine vage Geste in Richtung Eingang. »Und als Ian das Institut bauen wollte, haben wir alle gemeinsam nach dem richtigen Ort gesucht und die Pläne entworfen. Das Institut war nicht nur heilsam für unser Verhältnis, sondern auch für Helen.« Sie lächelte Dr. Epstein dankbar zu, doch der traurige Ausdruck in ihren Augen blieb.
Doch dann verstärkte sie ihren Griff um Francescas Ellbogen und zog sie mit sich. »Wie ich sehe, haben Sie diese Neuigkeiten ein wenig schockiert. Unter diesen Umständen halte ich es für das Beste, wenn Sie alles Weitere mit Ian besprechen.«
»Ian und Helen gehen nach ihrem Spaziergang ins Morgenzimmer«, erklärte Dr. Epstein.
»Gut. Dann werden wir dort auch hingehen«, erklärte Anne entschlossen und führte Francesca zu einer Reihe von Aufzügen. »James ist schon dort, dann kann ich Sie ihm bei der Gelegenheit gleich vorstellen.«
Francesca war immer noch viel zu verblüfft über die Nachricht, dass Helen lebte und in der Anstalt behandelt wurde, um Einwände zu erheben. Wie sehr musste Ian gelitten haben!
Sie
Weitere Kostenlose Bücher