Temptation: Weil du mich verführst
gefunden haben.«
Francesca lauschte ergriffen. Kein Wunder, dass Ian alles und jeden um sich herum kontrollieren musste. Der arme, arme Junge. Wie einsam er sich gefühlt haben musste. Wie brutal, in Helens klaren Phasen Momente voller Liebe und Verbundenheit mit seiner Mutter erleben zu dürfen, nur um zusehen zu müssen, wie die Psychose sie ihm erneut entriss, so wie heute. Plötzlich musste sie wieder an diesen verlorenen Ausdruck auf seinem Gesicht denken, bei dessen Anblick sich jedes Mal ihr Herz verkrampfte – der Ausdruck eines Menschen, der nicht nur verlassen worden war, sondern mit Gewissheit wusste, dass er über kurz oder lang abermals zurückgewiesen werden würde.
»Es tut mir so unendlich leid, Anne«, sagte Francesca, doch schon in dem Moment, als die Worte über ihre Lippen kamen, war sie sich bewusst, wie unzulänglich sie klangen, wie dünn und oberflächlich.
»Dr. Epstein hat uns vor übertriebenem Optimismus gewarnt. Aber es ist so schwer, sich jede Hoffnung zu verbieten, und Helen hat so gute Fortschritte gemacht. Wir haben sie gesehen, wenn auch nur ganz kurz, mit ihr geredet – mit ihr , unserer Helen. Unserer lieben, süßen Helen.« Sie seufzte tief. »Na ja, es gibt noch andere Behandlungsansätze. Vielleicht … eines Tages …«
Doch Annes bedrückte Stimmung und ihre gräuliche Gesichtsfarbe beschworen in Francesca den Verdacht herauf, dass sie drauf und dran war, die Hoffnung aufzugeben, ihre Tochter jemals glücklich und gesund zu sehen. Wie oft mochten die Nobles eine leichte Verbesserung von Helens Zustand gesehen haben, nur um dann miterleben zu müssen, wie sie neuerlich dem Irrsinn anheimfiel.
Wenige Minuten später kehrte Ian ins Morgenzimmer zurück. Francesca erhob sich mit zittrigen Knien. »Sie schläft jetzt«, sagte er zu seiner Großmutter, sorgsam darauf bedacht, Francesca nicht in die Augen zu sehen. »Julia hat die Medikation geändert. Mom bekommt wieder dasselbe Präparat wie vorher. Damit ist ihr Zustand zumindest stabil.«
»Wenn stabil das Synonym für sediert ist, stimmt das wohl«, bemerkte Anne.
Ian presste kaum merklich die Lippen aufeinander. »Wir haben keine andere Wahl. Wenigstens hat sie sich nicht selbst verletzt.« Er sah Francesca an, die sich innerlich unter seinem eisigen Blick krümmte. »Wir werden jetzt gehen«, erklärte er. »Ich habe meinen Piloten angerufen, der die Maschine für den Rückflug nach Chicago vorbereitet.«
»Gut«, sagte Francesca. Damit bekäme sie zumindest die Gelegenheit, ihm zu erklären, weshalb sie nach London gekommen war. Sie würde sich bei ihm entschuldigen, weil sie sich in etwas eingemischt hatte, was sie nichts anging. Vielleicht konnte sie ihm ja begreiflich machen …
Doch wann immer sie daran dachte, wie verletzlich er gewesen war, wie innerlich zerrissen …
Sie hatte Angst, dass er ihr niemals verzeihen würde.
Auf der Fahrt zum Flughafen redete er fast kein Wort mit ihr, sondern starrte stur geradeaus auf die Straße, die Hände so fest ums Steuer gelegt, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Als sie versuchte, die Stille mit einer Entschuldigung zu durchbrechen, schnitt er ihr barsch das Wort ab.
»Woher wusstest du, wo ich bin?«
»Ich habe dich zweimal mit Dr. Epstein gesehen – einmal in Paris und dann noch einmal bei dir zu Hause. Ich habe gehört, wie sie ein ›Institut‹ erwähnt hat, und Mrs Hanson hat mir erzählt, dass sie Ärztin ist.«
Er warf ihr einen Blick zu. »Das beantwortet meine Frage nicht, Francesca.«
Sie sank auf dem Beifahrersitz zusammen. »Ich … Als ich auf deinem Tablet die Fragen für die Führerscheinprüfung gelernt habe, ist mir aufgefallen, dass du mehrmals auf der Homepage des Genomics Research and Treatment Institute warst.« Sie sank noch tiefer in den Sitz, als sie seinen zornigen Blick sah.
»Du hast meine Historie am Computer durchstöbert?«
»Ja«, gab sie kleinlaut zu. »Es tut mir leid. Ich war neugierig, vor allem, nachdem du das erste Mal so überstürzt verschwunden bist. Dann hat Jacob mir erzählt, dass er dich nie nach London begleitet, und ich habe eins und eins zusammengezählt.«
»Dummheit kann man dir jedenfalls nicht vorwerfen«, stieß er hervor und schloss die Hände noch fester um das Lenkrad. »Du musst sehr stolz auf deine detektivischen Fähigkeiten sein.«
»Das bin ich nicht. Ich fühle mich schrecklich. Es tut mir wahnsinnig leid, Ian.«
Er schwieg, doch seine Lippen waren fest zusammengepresst und sein
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