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Tempus (German Edition)

Tempus (German Edition)

Titel: Tempus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maud Schwarz
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übermenschliche Kraft, doch es musste sein. Sonst würde ich die beiden so schnell nicht mehr loswerden. Und ich wollte unbedingt allein sein. Ich konnte jetzt keine Gesellschaft ertragen und vor allem keine Fragen.
    »So ein italienischer Typ hat mich verfolgt. Als ich vor ihm weglief, bin ich gestolpert und hingefallen. Dabei habe ich mir, glaube ich, den Fuß verletzt und meinen Anhänger verloren«, sagte ich auf Englisch.
    »Welcher Fuß ist es denn?«, wollte der Mann wissen.
    »Der rechte.«
    »Lass mal sehen.« Er tastete meinen Knöchel ab. »Gebrochen scheint er nicht zu sein. Er ist vermutlich nur ein wenig verstaucht.«
    »Danke für die Hilfe. Ich denke, ich komme jetzt allein zurecht.« Ich stand auf und wischte mir die Hände an der Tunika ab.
    »Bist du sicher?« Die junge Frau sah mich skeptisch an.
    »Ja, danke.« Ich verabschiedete mich eilig und ging in die Richtung, in der ich das Forum Romanum vermutete. Ein anderes Ziel fiel mir so schnell nicht ein. Für den Fall, dass die beiden mir nachschauten, zog ich das rechte Bein ein wenig nach.
    Schritt für Schritt schleppte ich mich vorwärts. Immer wieder griff ich mir an den Hals, in der Hoffnung, das Amulett wäre wie durch ein Wunder wieder an seinem Platz. Aber das war es nicht. Meine Kehle brannte, ich hatte Durst, ansonsten fühlte ich nichts. Ich war wie betäubt.
    Völlig durcheinander erblickte ich plötzlich das Kolosseum, das gestern noch nicht dort gestanden hatte. Sein ungewohnter Anblick verwirrte mich erst recht. Links daneben erstreckte sich das Forum Romanum, beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war. Vor wenigen Stunden noch hatte ich seine prachtvollen Bauten bewundert und mich über das Gedränge auf dem Markt aufgeregt; nun war es nichts weiter als eine traurige Ansammlung von Ruinen. Keine Frage, ich befand mich wieder in der Gegenwart! Marcius, Filippa, Verus, Kleon, Lucius und all die anderen waren jetzt bereits seit einer Ewigkeit tot. Sofern sie überhaupt jemals gelebt hatten. Bis auf meine Tunika und die Ruinen vor mir erinnerte nichts mehr an sie. Ich begann, an meinem Verstand zu zweifeln.

Was nun?

    Ich musste verrückt geworden sein! Eine andere Erklärung fiel mir nicht ein. Womöglich litt ich unter einer Erbkrankheit oder ich hatte hohes Fieber, das Halluzinationen hervorrief. Was sollte ich jetzt tun? Zum Arzt gehen? Mir fiel ein, dass mein Vater Arzt war. Für einen kurzen Augenblick verspürte ich so etwas wie Hoffnung. Mein Vater! Mit ein bisschen Glück saß er im Hotel und wartete auf mich. Ich musste nur versuchen, das Hotel zu finden. Es konnte nicht weit entfernt sein.
    Taumelnd machte ich mich auf den Weg. Ich merkte, wie mich die Menschen auf der Straße musterten – einige mitleidig, andere neugierig. Ihre Blicke wanderten von meiner dreckigen Tunika hoch zu meinem verweinten Gesicht. Es war mir gleichgültig. Ich wollte nur noch zum Hotel. Zu Erik. Zu meinem Vater. Zu meinen Eltern.
    Nach etwa fünfzehn Minuten erreichte ich das mehrstöckige Gebäude, in dem sich unsere Pension befand. Zu meinem eigenen Erstaunen hatte ich es nicht lange suchen müssen. Der Rezeptionist erschrak, als er mich sah.
    »Signorina, was ist passiert?«, fragte er in gebrochenem Englisch. Er schien mich zu kennen, was ein gutes Zeichen war.
    »Nicht so schlimm. Könnte ich bitte meinen Schlüssel haben?« Ich gab mir Mühe, so normal wie möglich zu klingen. Doch was war schon normal?
    »Selbstverständlich, Signorina! Numero zweiundzwanzig, richtig?«
    »Mhmm«, sagte ich. In Wirklichkeit konnte ich mich nicht mehr genau an die Zimmernummer erinnern. Ich nahm den Schlüssel entgegen und ging die Treppe hinauf. Auf der vierten Stufe blieb ich stehen. »Ist mein Vater eigentlich da?«, erkundigte ich mich.
    »Nein, Signorina, ich habe ihn seit heute morgen nicht gesehen. Sein Schlüssel hängt hier nach wie vor.«
    Langsam stieg ich die Stufen hoch bis ins zweite Obergeschoss und schloss mit zittrigen Fingern die Tür zu meinem Hotelzimmer auf. Es sah genauso aus, wie ich es verlassen hatte. Wenigstens bildete ich mir das ein. Ein paar Klamotten von mir hingen unordentlich über der Stuhllehne, meine Schuhe lagen kreuz und quer auf dem Boden neben dem Schrank, und auf dem Nachttisch entdeckte ich mein Handy. Laut Displayanzeige war es der 4. Juni 2011, 14.52 Uhr. Ich dachte nach. Immer und immer wieder ging ich im Kopf alles durch. Wenn die Anzeige stimmte, war ich nicht fünf Monate fort gewesen, sondern nur

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