Tempus (German Edition)
Narbe, seine schlanken Finger, die kurzen braunen Haare, die im Kerzenlicht wie polierte Haselnüsse schimmerten, seine klaren Gesichtszüge und die scharf geschnittene Nase, die er von seinem Vater geerbt hatte.
Ich wollte und durfte ihn nicht verlieren.
Es mochte bereits die vierte oder fünfte Nacht sein, die ich an Marcius’ Bett verbrachte. Ich hatte inzwischen jegliches Zeitgefühl verloren. Wieder einmal stand ich auf, um seine Lippen mit Wasser zu benetzen. Durch das Fieber verlor er viel Flüssigkeit. Erleichtert stellte ich fest, dass Marcius ruhig schlief. Das Fieber schien etwas nachgelassen zu haben. Er sah unglaublich friedlich und schön aus. Beinahe wie ein ... Bevor ich den Gedanken zu Ende denken konnte, packte mich Marcius völlig unerwartet am Handgelenk und zog mich mit einer Kraft zu sich herunter, die ich ihm angesichts seines Zustands niemals zugetraut hätte. Wie stark mochte er erst sein, wenn er gesund war?!
»Wer bist du?«, flüsterte er. Fast unmerklich wogten die Gräser im Wind. Ich spürte seinen fiebrigen Atem auf meiner Wange. Mein Puls beschleunigte sich.
»Ich bin es, Elina.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
Erschöpft ließ er mich los und fiel zurück auf sein Lager. Er schlief augenblicklich ein.
Lange Schatten
Zwei Tage später schien sich Marcius’ Zustand endlich zu stabilisieren. Eine tonnenschwere Last fiel von mir. Zum ersten Mal sah ich auch Lucius lächeln. Marcius’ Vater war ein hagerer Mann um die fünfzig Jahre mit kurzen, grauen Haaren. Ich war noch nie einem Menschen begegnet, der sich so aufrecht hielt wie er. Er wirkte dadurch ungemein stolz, was er wohl auch war. Von Filippa hatte ich erfahren, dass er das Oberhaupt einer reichen Patrizierfamilie und Mitglied des Senats war. Seine Frau, Marcius’ Mutter, war vor vielen Jahren gestorben. Kleon, der Lucius’ rechte Hand war und ihn fast immer begleitete, wenn dieser seinem Sohn einen Krankenbesuch abstattete, ähnelte in Aussehen und Auftreten seinem Herrn.
Beide würden wohl niemals meine besten Freunde werden.
»Er macht einen viel besseren Eindruck als gestern.« Lucius beugte sich zufrieden über das Bett seines Sohnes. Zum vierten Mal sah er heute schon nach ihm.
Ich nickte nur erschöpft und flößte Marcius einen Löffel Rindfleischsuppe ein. Lucius’ Köchin, Lea, hatte sie auf meinen Wunsch hin gekocht. Hedda behauptete nämlich immer, Rindfleischsuppe habe eine besonders stärkende Wirkung. Lucius war nach kurzem Zögern mit der Suppe einverstanden gewesen – anders als Lea, die von Rindfleischsuppe nichts hielt, weil sie sie nicht kannte und weil im Haus des Senators üblicherweise Schweinefleisch gegessen wurde. Um sicherzugehen, dass Lea die Suppe richtig zubereitete, hatte Lucius befohlen, dass ich ihr beim Kochen über die Schulter gucken sollte. Tatsächlich hatte ich jedoch die meiste Zeit mit geschlossenen Augen in der Küche gesessen und den Geruch eingesogen. Den Geruch von Geborgenheit, der mich an eine andere Küche und eine gänzlich andere Zeit erinnert hatte. Nur das laute Klappern der alten Köchin hatte verhindert, dass ich eingeschlafen war.
»Wie lange bin ich schon krank?«, fragte Marcius zwischen zwei Löffeln voll Suppe. Er sprach leise und mit Pausen.
»Gleich sieben Tage.« Lucius tätschelte seinem Sohn die Schulter. »Es ist das Wundfieber. Aber du schaffst das. Da bin ich mir sicher.«
Marcius machte Anstalten, zu antworten. Ich kam ihm zuvor. »Nicht reden«, sagte ich leicht verlegen, »das strengt nur an. Iss lieber noch einen Löffel voll!«
Widerwillig öffnete er den Mund. Er fühlte sich ganz offensichtlich genauso unwohl in seiner Rolle wie ich mich in meiner.
Als der Teller leer war, wedelte mich Lucius mit seinen Händen aus dem Zimmer. »Du kannst jetzt gehen!«
Wieder einmal ärgerte ich mich über die Art, wie Lucius mich behandelte; andererseits war ich froh, endlich eine Pause machen zu können. Ich zog los, um Filippa zu suchen, mit der ich mich inzwischen angefreundet hatte. Vielleicht hatte sie ja Lust, ein bisschen mit mir rauszugehen. Marcius jedenfalls brauchte mich vorerst nicht.
Nach wie vor fiel es mir schwer, mich in dem großen Haus zu orientieren. Neben den beiden begrünten Innenhöfen gab es außerhalb des Gebäudes noch eine Terrasse, wo Filippa und ich bereits zwei- oder dreimal gesessen und miteinander geplaudert hatten, während eine ältere Sklavin auf Marcius aufgepasst hatte. Auf halbem Weg dorthin stieß ich auf
Weitere Kostenlose Bücher