Tempus (German Edition)
Schluck. Besonders wohl fühlte ich mich dabei nicht. Ich wusste zwar aus Erfahrung, dass ich Aspirin vertrug, von meinen Eltern hatte ich allerdings gelernt, dass einige Menschen regelrecht allergisch darauf reagierten. Ich konnte nur hoffen, dass nicht ausgerechnet Marcius dazugehörte. Ich beschloss, ihm den Inhalt des Bechers lieber schlückchenweise einzuflößen.
»Darf ich?«, fragend hielt ich Kleon und Lucius den Becher hin.
»Wir warten noch ein wenig«, entschied Lucius und verschränkte seine Hände hinter dem Rücken.
Filippa kehrte mit einer großen Schale Wasser und mehreren Tüchern zurück. Ich tauchte die Tücher in das kalte Wasser, wrang sie aus und wickelte sie um Marcius’ Waden und Arme, so wie Hedda es bei mir gemacht hatte, als ich als Kind Windpocken und hohes Fieber gehabt hatte.
»Wozu ist das gut?« Lucius stellte sich hinter mich und guckte mir über die Schulter.
»Die kalten Wickel ziehen das Fieber aus dem Körper«, bemühte ich mich zu erklären. Lucius erwiderte nichts.
»Darf ich ihm jetzt das Mittel geben?«
Lucius sah mir prüfend in die Augen. Schließlich nickte er. Ich hob Marcius’ Kopf leicht an und gab ihm das Wasser mit der aufgelösten Tablette zu trinken. Ganz vorsichtig, Schluck für Schluck. Das Aspirin schien Marcius zu bekommen. Jedenfalls zeigte er keinerlei Anzeichen einer Unverträglichkeit. Ich atmete auf.
Ungleicher Kampf
In den folgenden Tagen wich ich kaum von Marcius’ Seite. Ich machte ihm regelmäßig Wadenwickel, erneuerte den Verband, kühlte seine Stirn und gab ihm Aspirin. Trotzdem ging es ihm nicht besser. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett herum und fantasierte laut. In immer kürzeren Abständen maß ich Marcius’ Puls und legte mein Ohr an seinen Mund, um zu überprüfen, ob er noch atmete. Doch was ich auch machte, es schien nicht zu helfen. Ich hatte das Gefühl, vor Sorge fast verrückt zu werden.
Mein Schicksal, daran gab es keinen Zweifel, war inzwischen mit seinem eng verknüpft. Wenn er starb, würde auch ich sterben. Lucius würde mich für seinen Tod verantwortlich machen – da war ich mir sicher.
In Afrika hatten sie mich stets die Tochter der Gazelle genannt, weil Hedda so schlank und grazil war. Mit schnellen, aufgescheuchten Bewegungen. Jetzt kam ich mir vor wie eine Löwenmutter, die sich zähnefletschend vor ihr Junges stellte und versuchte, den Angreifer zu vertreiben. Es war kein fairer Kampf, denn mein Gegner war der Tod.
Leben und Sterben
Alles hatte sich gegen mich verschworen. Die Zeit. Der Tod. Alles. Marcius’ Wunde wurde zusehends dunkler und eitriger. Ich wusste weder ein noch aus. Schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Mit dem Skalpell aus Eriks Tasche schnitt ich unter Kleons kritischem Blick in das entzündete, schon leicht faulende Fleisch und drückte vorsichtig den Eiter aus der Wunde. Anschließend legte ich einen neuen Salbenverband an.
Ich wartete.
Wenige Stunden später zeigte der Eingriff tatsächlich Wirkung. Marcius wurde ruhiger, sodass ich es wagte, für kurze Zeit meiner Müdigkeit nachzugeben. Ich saß an seinem Bett, schloss die Augen und nickte ein. Doch der Schlaf war alles andere als eine Wohltat. Schreckliche Traumbilder quälten mich.
Wieder und wieder sah ich Hände durch die Luft fliegen und Bäche von Blut. Von allen Seiten hörte ich Schmerzensschreie. Bekannte Stimmen mischten sich mehr und mehr darunter. Erst jetzt bemerkte ich Marcius, der tot auf der Erde lag. Lucius erschien und befahl mir, meine Hand auszustrecken, um sie mir ebenfalls zur Strafe mit einem Beil abzuschlagen. Hedda flehte Lucius an, mich zu verschonen, aber er schüttelte nur den Kopf. Auf einmal sah ich Erik, der in seiner Arzttasche nach Nadel und Faden suchte, um mir, wenn es so weit war, die Hand wieder anzunähen. Gerade holte Lucius mit seinem Beil aus, da wurde ich von Marcius’ Stöhnen wach.
Augenblicklich war ich auf den Beinen, um nach ihm zu sehen. Mit noch zitternden Händen wischte ich erst ihm und dann mir die Schweißtropfen von der Stirn.
Aus nächster Nähe
Es war nicht nur die Angst vor Lucius’ Rache, die mich antrieb. Marcius war mir inzwischen mehr ans Herz gewachsen, als mir lieb war. Ich kannte fast jeden Quadratzentimeter seines Körpers. Unzählige Male hatte ich ihn berührt. Beim Wickeln der Waden und beim Waschen. Und noch viel öfter hatte ich ihn heimlich betrachtet. Alles an Marcius war mir mittlerweile vertraut. Jeder Muskel, jede noch so kleine
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