Tempus (German Edition)
die Wahrheit wissen. Selbst wenn ich mich dazu entschließen sollte, sie ihm zu erzählen, was nützte es? Er würde mir niemals glauben und sich wieder von mir zurückziehen. Vielleicht würde er sogar erst recht auf einer Heirat mit Verus bestehen. Blieb mir also nur, eine glaubhafte Geschichte zu erfinden und ihn anzulügen. Eine schreckliche Vorstellung! Ich würde Marcius danach nie mehr in die Augen sehen können. Andererseits waren Notlügen erlaubt, und hierbei handelte es sich eindeutig um eine Notlüge. Was allerdings würde passieren, wenn Marcius entdeckte, dass ich gelogen hatte? Er würde es mir nie verzeihen. Notlüge hin oder her.
Ich wusste keinen Ausweg.
Warum war auf einmal alles so kompliziert? Früher hatte ich einfach in den Tag hineingelebt. Zusammen mit Harry. Jeden Tag waren wir als Kinder auf Entdeckungstour gegangen. Wir hatten bunt schillernde Käfer beobachtet, die mühevoll an langen, sich immer stärker biegenden Grashalmen emporgekrabbelt waren.
Mit nackten Füßen waren wir über verdorrte Felder gelaufen und hatten zitronengelbe Schmetterlinge mit der bloßen Hand gefangen und sie anschließend ohne schlechtes Gewissen heimlich mit frisch gepflückten Blumen und Blättern zwischen Buchseiten gepresst, um sie unsterblich zu machen. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich wieder die harten Stoppeln unter meinen Fußsohlen spüren und das feine Kitzeln der Flügel zwischen meinen Handflächen. Später, als wir älter wurden, hatten Harry und ich gemeinsam Musik gehört, Händchen gehalten und uns heimlich geküsst. Ich sehnte mich nach dieser sorgenfreien Zeit zurück, in der jede Minute voller Zauber gewesen war und in der meine Eltern alles für mich geregelt hatten. Aber dieses Leben war vorbei. Unwiderruflich.
»Was habt ihr so früh da draußen gemacht?« Filippa hatte in der Eingangshalle auf mich gewartet, während ich noch eine Weile vorm Haus auf- und abgegangen war, um in Ruhe nachzudenken.
»Ich konnte nicht schlafen. Wir haben uns zufällig getroffen«, nuschelte ich.
»Habt ihr euch endlich ausgesprochen?«
»Wieso? Wie meinst du das?« Ich bemühte mich, ein möglichst harmloses Gesicht zu machen, was mir anscheinend nicht besonders gut gelang.
»Ich dachte wir wären Freundinnen. Wenn du mit mir darüber nicht reden willst, werde ich nicht weiter in dich dringen. – Komm mit, ich will deine Wunden versorgen.«
»Lass nur, das ist halb so schlimm. Ich kann das selbst machen«, wiegelte ich ab.
»Wie du meinst.« Filippa ließ mich stehen und eilte den Gang zum Innenhof mit dem Wasserbecken hinunter. Ich hatte sie gekränkt. Gerade wollte ich ihr nachlaufen, um mich zu entschuldigen, da sah ich durch die noch immer offene Haustür Marcius in Begleitung mehrerer Männer davongaloppieren. Wenn er sich jetzt umdreht, dachte ich, hat er mich wirklich gern und alles wird gut.
Die Männer ritten auf eine Baumgruppe zu. Kurz bevor sie diese erreichten, wandte Marcius den Kopf und hob kurz die Hand zum Gruß. Mein Herz machte einen Sprung. Er hatte sich tatsächlich nach mir umgedreht. Ich hob ebenfalls meine Hand, aber da hatten die Bäume ihn und die anderen schon verschluckt. Auf einmal hatte ich Angst, Marcius würde nie mehr zurückkehren. Es liegt bei dir, Elina , hörte ich seine Stimme in Gedanken. Es liegt bei dir.
Ich folgte Filippa in den kleineren der beiden Essräume, wo sie wie jeden Morgen das Frühstück für Lucius hinstellte. »Wollen wir uns nachher, wenn du eine Pause machst, bei unserer Bank treffen?«, fragte ich.
»Gern.« Sie strahlte mich an. Filippa konnte nie lange auf jemanden böse sein. Erleichtert ging ich in unser Zimmer und verarztete mich selbst. Anschließend legte ich mich auf mein Bett und dachte an Marcius und seine Bedingung. Wie gern hätte ich mit Filippa darüber geredet und ihren Rat eingeholt, aber dafür hätte ich das Geheimnis meiner Herkunft preisgeben müssen, was unmöglich war. Selbst sie würde mir niemals glauben. Ich musste daher vorsichtig sein, was ich ihr nachher erzählte und was nicht. Warum war alles bloß so schwierig?
Ich fing an, mich zu langweilen. Seitdem Marcius gesund war, hatte ich keine Aufgabe mehr, die mich wirklich ausfüllte. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Nicht allzu weit entfernt erblickte ich zwei Sklavinnen, die zunehmend meine Aufmerksamkeit erregten. Die ältere der beiden Frauen redete heftig auf die jüngere ein. Was sie genau sagte, konnte ich nicht verstehen. Ihrer Mimik
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