Tempus (German Edition)
geschlagen hatte? Dann wäre er jetzt in größter Gefahr. Ich atmete tief ein und aus. Bestimmt machte ich mir überflüssige Sorgen! Wenn der Krieg ausgebrochen wäre, hätte ich das sicherlich mitbekommen. So etwas geschah nicht still und leise. Wahrscheinlich führte Marcius wirklich nur Gespräche.
Wieso war alles so schwierig? Traurig betrachtete ich meine Arbeit. Vielleicht konnte ich ja wenigstens sie retten. Der Farbklecks war, wie ich feststellte, noch nicht getrocknet. Ich nahm die Rohrfeder und bemühte mich nach Kräften, ihm mithilfe der überschüssigen Farbe eine kreisrunde Form zu geben. Um den Kreis herum zeichnete ich ein Rechteck mit abgerundeten Ecken; die freie Fläche dazwischen verzierte ich mit Ornamenten. Aus dem ehemaligen Klecks war ein Schild entstanden. Fehlte nur der edle Krieger, der ihn in der Hand trug. Auf der Schriftrolle, die ich kopierte, fand ich eine passende Vorlage. So gut ich konnte zeichnete ich sie Strich für Strich ab. Immer wieder hielt ich inne und kontrollierte die Proportionen. Langsam nahm der Krieger Form an.
Gegen Nachmittag kam Lucius in die Bibliothek, um meine Fortschritte zu begutachten. Wie gern hätte ich ihn nach Marcius gefragt. Selbst als Lucius auf den Krieger mit dem Schild tippte und sagte »Der da sieht ein wenig aus wie mein Sohn«, traute ich mich nicht, zumal Lucius gleich fortfuhr: »Anscheinend hat mein Sohn schon vor über tausend Jahren in Troja gekämpft. Ich wusste gar nichts davon. Fürwahr, die Launen der Götter sind unergründlich. Oder sollte es etwa auf eine Laune von dir zurückzuführen sein?« Mit einem eigenartigen Lächeln stolzierte er aus der Bibliothek. Verdutzt blickte ich ihm hinterher.
Was hatte diese Bemerkung zu bedeuten? Wusste er etwa Bescheid und machte sich über mich lustig? Oder war das keine Anspielung gewesen, sondern nur ein seltsamer Zufall? Ich fühlte mich unbehaglich. Und ertappt. Der Krieger hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit Marcius. Bisher war mir das gar nicht aufgefallen. Vorsichtig strich ich mit der Fingerkuppe über sein papiernes Gesicht. Es fühlte sich ein wenig rau an.
Besuch in der Nacht
Stunde für Stunde verbrachte ich in der Bibliothek. Bis mir die Finger und der Rücken wehtaten. Ich schrieb nicht nur einen Vers nach dem anderen ab und kopierte die Illustrationen, ich verschnörkelte auch eigenmächtig so kunstvoll es eben ging die Buchstaben am Anfang einer jeden Strophe und umrahmte die einzelnen Gesänge mit Bordüren aus geraden und verschlungenen Linien. Damit wich ich zwar von der Vorlage ab, aber es machte mir einfach Spaß und ich hatte dadurch auch nicht so viel Zeit zum Grübeln. Nachts allerdings holten mich die Gedanken ein.
Wieder einmal wälzte ich mich von rechts nach links, auf den Bauch, dann auf den Rücken und wieder zurück auf den Bauch. Filippa schlief bereits. Mit geschlossenen Augen lauschte ich ihrem gleichmäßigen Atem. Er hatte etwas Beruhigendes, dennoch konnte ich nicht einschlafen.
Ich musste an Marcius denken. Wie jede Nacht. Ich vermisste ihn und seine Hand, die nie wieder nach meiner greifen würde. Marcius hielt mich für eine Lügnerin, da war ich mir hundertprozentig sicher. Sonst hätte er mich neulich bei den Bäumen nicht so blöd behandelt. Bevor es mit uns richtig begonnen hatte, war es bereits wieder vorbei. Und ich allein war daran schuld. Warum hatte ich meinen Mund nicht halten können? Ich hatte doch gewusst, dass mir niemand meine Geschichte glauben würde. Hätte mir jemand was von einer Zeitreise erzählt, würde ich ihn auch entweder für bekloppt oder für einen Lügner halten.
Erneut drehte ich mich im Bett um. Es knarrte leicht. Filippa brabbelte irgendetwas Unverständliches. Ich horchte, ob sie wach geworden war, dann hätte ich mit ihr reden können. – Nein, so wie es sich anhörte, schlief sie weiterhin tief und fest. Schade. Ich drehte mich zum hunderttausendsten Mal auf den Rücken. Um mich herum nichts als Finsternis.
Ohne, dass ich es richtig merkte, zwängte sich eine Träne durch meine Wimpern hindurch und lief meine Wange hinab. Millimeter für Millimeter arbeitete sie sich in Richtung Kinn vor. Gerade als ich die Hand hob, um sie wegzuwischen, spürte ich, wie sich von rechts ein starker Arm unter meinen Nacken schob. Langsam und vorsichtig, so wie damals in Schweden. Ich stutzte und hielt den Atem an. Ein zweiter Arm legte sich ganz sacht über meine Brust. Ich wagte kaum, mich zu bewegen, um die Arme, die mich
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