Tempus (German Edition)
Verständlichkeit eine Zeitachse in die Luft gemalt hatten.
In der Bibliothek herrschte eine bedrückende Stille. Keiner von uns sprach mehr. Wozu auch? Alles war gesagt. Und alles verloren. Ich sah seine Zweifel. So wie ich es befürchtet hatte. Eben noch hatte er meine Hand genommen, sie geküsst und auf seine Brust gelegt, wo ich seinen Herzschlag fühlen konnte. Nun stierte er vor sich hin. Ich war selbst schuld. Ich hatte das Glück verscheucht, indem ich Marcius wider besseren Wissens die Wahrheit erzählt hatte. Eine Wahrheit, die er unmöglich glauben konnte.
»Lass uns zu diesem Baum gehen.« Marcius war mit einem Satz aufgesprungen.
»Was sollen wir dort?«
»Ich will die Stelle sehen«, sagte er und betonte dabei jede einzelne Silbe.
»Da gibt’s nichts zu sehen! Ich war schon mehrmals ohne Erfolg dort. Zuletzt als du mich vor der Schlange gerettet hast. Du kennst die Stelle«, protestierte ich.
»Das ist egal. Ich will sie sehen!« Marcius stürmte zum Ausgang der Bibliothek. Als ich ihm nicht gleich folgte, blieb er stehen und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Komm, Elina!«
Ich zögerte kurz, dann trottete ich ihm hinterher. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken wie ein Karussell. Wovon wollte er sich überzeugen? Ob es diesen Baum gab? Er wusste, ich hatte mich bereits vergebens an irgendwelche Stämme gelehnt. Gerade erst hatte ich es ihm erzählt. Was also sollte das Ganze?
Wir liefen den Sandweg entlang. Fröstelnd versuchte ich, mit Marcius Schritt zu halten. Am liebsten wäre ich umgekehrt und zurück ins Haus gegangen. Es war kalt und ich hatte nicht einmal ein Tuch bei mir, um es mir über die Schultern zu legen. In der vergangenen Nacht hatte es zum ersten Mal geregnet, seitdem ich hier war. An mehreren Stellen standen Pfützen. Meine Ledersandalen, die Filippa mir gegeben hatte, boten nur wenig Schutz. Genauso wenig wie meine Tunika, die aus Wollstoff war.
Marcius und ich hatten die Stelle erreicht, wo wir uns rechts vom Sandweg ins Gebüsch schlagen mussten. Wir zwängten uns zwischen triefenden Sträuchern und Farnen hindurch. Innerhalb kürzester Zeit war ich nass bis auf die Haut. Die Tunika klebte an meinem Körper, die Sandalen waren durchweicht und als wäre das nicht alles schon schlimm genug, prasselten unermüdlich Tropfen von den Zweigen über uns auf mein Haar herab.
»Da wären wir. Welcher ist es?« Wir waren zu den Bäumen gelangt, wo sich Marcius fragend umsah.
»Ich glaube, der da.« Ich zeigte auf einen besonders dicken Stamm.
»Sicher?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu explodieren. »Es ist zu lange her, es war damals dunkel und ich war aufgeregt. Ich konnte ja nicht ahnen, diesen Baum später einmal identifizieren zu müssen.«
Er ignorierte meine Empörung. »Gut, versuchen wir es einfach. Lehn dich gegen den Stamm!«
»Es wird sowieso nichts passieren!«
»Tu es«, forderte er.
Mit einem leisen Stöhnen lehnte ich mich gegen den Stamm, auf den er zeigte. Aufmerksam verfolgte er jede einzelne meiner Bewegungen. Auch dass ich mein Gesicht verzog, als ich die nasse Borke auf meinem Rücken spürte, entging ihm nicht. Es schien ihn nicht weiter zu kümmern. Wortlos standen wir uns gegenüber und blickten einander an. Die Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah.
»Du bist noch da«, stellte er überflüssigerweise fest.
»Ich habe doch gesagt, nichts passiert!« Mir platzte endgültig der Kragen. Mir war kalt, ich war nass, ich befand mich nach wie vor in der Vergangenheit und zu allem Überfluss wurde ich wie eine Lügnerin behandelt. »Ich hab es dir gesagt«, grollte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich habe dir auch gesagt, du würdest mir die Wahrheit niemals glauben. Doch du hast mich gedrängt. Ich sollte Vertrauen zu dir haben.« Meine Stimme überschlug sich fast. »So sieht also dein Vertrauen aus! Was ist aus deinem Versprechen geworden? Du hast beim Grab deiner Mutter geschworen, mir zu glauben. Und was ist jetzt? Du glaubst mir nicht! Du bist es also gewesen, der gelogen hat! Und nicht ich! Ich habe die Wahrheit gesagt!« Ich war außer mir.
Marcius verzog keine Miene; er wirkte seltsam steinern. Er packte mich, ohne eine Silbe zu sagen, am Ellbogen und zog mich hinter sich her. Zweige peitschten gegen meine Arme und Beine, ich stolperte über eine Baumwurzel, schließlich kamen wir zu dem Sandweg. Marcius ließ mich los und stapfte davon. Ich sah ihm durch einen
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