Tempus (German Edition)
Gesicht. »Nein, heute nicht.« Er beugte sich zu mir hinüber und küsste mich erneut. Seine Lippen waren heiß, trotz der Kälte. Erst als sein Pferd wieherte und einen kleinen Hüpfer zur Seite machte, trennten sich unsere Münder. Ich konnte gerade noch sehen, wie Amandus mit gefletschten Zähnen und angelegten Ohren sein Maul vom Hals des Grauschimmels zurückzog. Der kleine zottelige Kerl schüttelte seinen Kopf und schnaubte zufrieden. Er hatte unsere Unaufmerksamkeit genutzt und seinen Artgenossen gebissen. Marcius lachte und brachte sein Pferd abermals an meine Seite. Ich dagegen schimpfte mit Amandus, mehr im Spaß als im Ernst. Inzwischen hatte ich das Pferdchen richtig ins Herz geschlossen. Selbst wenn wir nicht ausritten, huschte ich öfter zu ihm in den Stall, um ihn zu streicheln oder mit Brot zu füttern, das ich aus der Küche stibitzt hatte.
Nach etwa drei Kilometern verließen Marcius und ich die Straße, die nach Süden führte und ritten über ein Feld. Hinter einer bewaldeten Anhöhe lag ein Häuschen aus Feldsteinen, das bewohnt zu sein schien. Aus dem Schornstein stieg eine Rauchsäule empor.
»Wer wohnt dort?«, fragte ich.
Marcius schmunzelte nur und trieb sein Pferd an. Im Galopp erreichten wir das Haus. Ohne ein Wort zu sagen, stieg Marcius ab, half mir aus dem Sattel und band unsere Pferde an einem Zaun fest. Anschließend nahm er mich auf den Arm.
»Was tust du da?«, kicherte ich. Er sagte noch immer nichts, sondern ging zu der Haustür, die er mit einem Fußtritt öffnete. Feierlich trug er mich über die Schwelle. Das Häuschen bestand nur aus einem einzigen Raum, in dessen Mitte ein Tisch, eine Bank und ein Schemel standen. An der Wand gleich neben der Feuerstelle befand sich ein Bett. Marcius setzte mich unmittelbar daneben ab.
»Was hat das zu bedeuten? Wem gehört das Haus?«
»Keine Ahnung. Verus hat es vor einiger Zeit entdeckt. Es war verlassen. Er hat es wieder auf Vordermann gebracht und mir den Vorschlag gemacht, es zu nutzen. Heute war er schon früh morgens hier, um für uns Feuer zu machen, damit wir es nicht so kalt haben, wenn wir ankommen. Na, wie gefällt es dir?« Marcius sah mich gespannt an.
»Hat sich Verus hier mit Cornelia getroffen?« Mein Blick wanderte von dem Bett zu Marcius und von ihm zurück zu dem Bett. Er begriff sofort, was ich dachte.
»Elina, wie kannst du bloß annehmen … Was glaubst du denn, wer ich bin?! Ich meine, ich würde doch niemals – herrje, ich bin nicht so wie Verus. Das müsstest du doch wissen!«
Stumm standen wir uns gegenüber. Die ausgelassene Stimmung hatten wir draußen bei den Pferden gelassen. Ich fühlte mich in dem Raum seltsam deplaziert und fremd, obwohl Marcius bei mir war. Der Wind pfiff ums Haus. Trotz des Feuers war mir kalt. Fröstelnd zog ich die Decke, die ich mitgenommen hatte, enger um meine Schultern. Marcius, der mit der Fußspitze Kreise auf den staubigen Fußboden gemalt hatte, sah es und nahm mich vorsichtig in die Arme. Er legte seine Wange an meine und flüsterte: »Verzeih, Elina. Wie konnte ich nur so dumm sein. Du hast recht. Es war falsch, hierherzukommen. Was musst du bloß von mir denken?! Am besten reiten wir sofort zurück.« Er küsste mich aufs Haar und griff nach meiner Hand.
Ich spürte, wie mein Herz allmählich auftaute. »Wenn wir schon hier sind, können wir uns wenigstens aufwärmen«, schlug ich schüchtern vor und setzte mich auf die Bank.
»Wie du möchtest«, murmelte er und nahm neben mir Platz. »Elina, du sollst nicht denken, dass ich dich in dieses Haus gebracht habe, um ...«
»Nein, das tue ich nicht. Bestimmt nicht«, fiel ich ihm ins Wort. Ich wollte jetzt nicht mit ihm darüber sprechen. Nicht bevor mein Herz wieder seinen Normalzustand erlangt hatte. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und schaute ins Feuer, in der Hoffnung, den Schmelzvorgang in mir zu beschleunigen. Mir war selbst nicht ganz klar, warum ich so empfindlich reagierte. Schließlich hatte Marcius mich hergebracht. Mein Marcius. Und nicht Verus. Irgendwie war in letzter Zeit bei uns der Wurm drin – egal, was wir machten.
»Weißt du, ich konnte es langsam nicht mehr aushalten. Immer diese Heimlichtuerei zu Hause. Ich wollte endlich einmal mit dir allein sein und dich küssen können, ohne immer befürchten zu müssen, dass gleich jemand um die Ecke kommt und es sieht«, sagte er leise.
»Dann tue es doch«, forderte ich ihn nach kurzem Zögern auf.
Er streichelte meine Wange, küsste meine
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