Tempus (German Edition)
Der Mond war gerade aufgegangen. Dick und rund hing er über dem Palatin. Nicht nur deshalb drohte mir eine unruhige Nacht.
Flüchtiger Geselle
Marcius machte seine Drohung wahr. Jeden Tag schleppte er mich zu den Bäumen. Zu den unterschiedlichsten Zeiten. Anfangs nahm ich es ihm übel. Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr dazu, zumal ich sah, dass er genauso litt wie ich. Ständig nahmen wir aufs Neue voneinander Abschied, und nach jedem gescheiterten Versuch umarmten wir uns. Bei den ersten Malen noch wie zwei Ertrinkende, später mit einer seltsamen Distanziertheit, die immer mehr zunahm und von Marcius ausging. Das Gefühl, ständig unter der Beobachtung von Lucius, Kleon und seinen Spitzeln zu stehen, machte es uns auch nicht gerade leichter. Je mehr ich mich bemühte, Marcius festzuhalten, desto mehr schien er mir zu entgleiten. Ich war ratlos und voller Sorge.
»Nie sind wir mal längere Zeit allein. Wenn wir öfter für uns wären, würde bestimmt wieder alles gut«, überlegte ich laut. Filippa lag in ihrem Bett neben mir und schwieg. »Ich glaube, Marcius leidet darunter noch mehr als ich. Wir brauchen unbedingt so eine Art Rückzugsort«, sprach ich weiter.
»Mhhhmm.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«, fragte ich gereizt.
»Das Glück ist ein flüchtiger Geselle. Es lässt sich nicht lange festhalten«, seufzte Filippa.
Ich drehte unwillig den Kopf in ihre Richtung. Doch ich konnte sie im Dunkeln nicht sehen. Sie war Lichtjahre von mir entfernt.
Kälteeinbruch
Schon möglich, dass ich Gespenster sah. Genau genommen, sah ich nur ein Gespenst, und das trug den Namen Trennung. Ich war ein gebranntes Kind und kannte die Vorzeichen. Sie bekamen immer schärfere Konturen. Marcius wirkte täglich reservierter, manchmal fast schon so abweisend wie früher. Sein Gesicht sah hart aus in dem kalten Licht der Wintersonne. Die Treffen mit mir schienen für ihn nur noch Pflichttermine zu sein. Ein Teil von mir wollte sich das nicht eingestehen. Der andere Teil beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Marcius, was ist los mit dir?«
Wir lehnten an einem Weinspalier, das vom Haus aus nicht zu sehen war.
»Was soll mit mir los sein?« Er blinzelte träge in die Sonne.
»Du bist so komisch in letzter Zeit!« Es fiel mir schwer weder vorwurfsvoll noch weinerlich zu klingen. Erwachsen zu sein oder wenigstens so zu tun, war eine ziemliche Herausforderung.
»Komisch? Unsinn, ich bin so wie immer!«
Leidenschaftlicher Widerspruch klang für meine Begriffe anders.
»Bist du nicht«, widersprach ich. »Du bist so … so … Ich habe das Gefühl, du bist nicht mehr gern mit mir zusammen. Wenn das so ist, dann sag es mir lieber gleich.«
Täuschte ich mich oder guckte er mich wirklich völlig entgeistert an?
»Elina, du denkst zu viel nach.« Er hob den Kopf wie ein Tier, das Gefahr witterte. »Psst, ich glaube, da kommt jemand. Ich verschwinde lieber. Bis später.« Einem Dieb gleich, schlich er sich davon.
Das Versteckspielen hatte komplett seinen Reiz verloren. Es war nur noch unwürdig und erniedrigend.
Verus’ Hilfe
Bist du fertig, Elina? Schnell, komm!«
»Wir waren doch gestern Abend erst bei den Bäumen. Nicht schon wieder«, wehrte ich ab. Ich kam gerade aus der Bibliothek, wo ich ein paar Strophen abgeschrieben hatte.
»Nein, nein, ich habe etwas anderes mit dir vor. Eine Überraschung.« Er strahlte mich an wie ein kleiner Junge. Sofort fühlte ich mich besser.
Vor dem Haus standen sein Grauschimmel und Amandus bereits fertig aufgezäumt und gesattelt. Elias, ein Sklave, hielt sie am Zügel, während Marcius mir aufs Pferd half. Wie meistens rutschte meine Tunika dabei etwas hoch. Marcius zupfte sie in aller Ruhe zurecht, wobei er mein Bein öfter als unbedingt notwendig berührte, was ich als gutes Zeichen wertete. Vielleicht stand es doch nicht so schlimm um uns, wie ich dachte.
»Wenn du so weitermachst, kommen wir heute nicht mehr weg«, neckte ich ihn wie in alten Zeiten. Er grinste und schwang sich auf seinen Grauschimmel. Pfeifend ritt er an meiner Seite den Palatin hinunter. Kaum waren wir außer Sichtweite, beugte er sich zu mir hinüber und küsste mich.
»Wohin reiten wir?«, fragte ich, als ich wieder zu Atem gekommen war.
»Wart’s ab!« Er lächelte. Es war schön, ihn wieder fröhlich zu sehen.
»Reiten wir auf den Janiculum?« Wir hatten die Stadtmauer hinter uns gelassen, und ich platzte fast vor Neugier.
Marcius machte ein geheimnisvolles
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