Tempus (German Edition)
Gebäude betrat, sah ich mich mehrmals um. Niemand schien mich zu beobachten. Schnell huschte ich durch die Stalltür und steuerte auf Amandus’ Box zu. Ich kam nicht weit. Zwei kräftige Arme packten mich von hinten.
»Elina!« Es klang wie ein unterdrückter Aufschrei. Er zog mich an sich und presste seinen Mund auf meinen. Sein Kuss schmeckte eigenartig. Ein bisschen nach Salz. Und noch etwas war anders als sonst, ich wusste nur nicht, was. Bevor ich es herausfinden konnte, löste er seine Arme von meiner Taille: »Komm!«
»Wohin?«
»Zu den Bäumen.«
»Warum?« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und hielt ihm meinen Mund entgegen, damit er mich noch einmal küsste. Doch er schob mich ein Stück von sich weg.
»Du weißt warum!«
»Und du weißt, ich will das nicht!«
»Elina, sei vernünftig!« Er zog mich am Handgelenk die Stallgasse entlang.
»Marcius, lass das!« Mit ganzer Kraft stemmte ich mich gegen ihn und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. Als wir im Freien waren, ließ er mich tatsächlich los, vermutlich um kein Aufsehen zu erregen. Traurig sah er mich an. Mein Ärger verflog von einer Sekunde zur nächsten. Ich streckte die Hand aus und wollte ihm durch seine Haare streichen, da schnappte er mich und warf mich über seine Schulter, wie einen Sack, der nichts wog.
»Lass mich sofort runter!« Ich trommelte mit meinen Händen auf seinen Rücken und strampelte mit den Beinen in der Luft.
»Nur wenn du mit mir zu den Bäumen gehst!«
»Nein!«
»Dann bleibst du, wo du bist.« Er lief einfach weiter.
»Marcius«, rief ich und trommelte wieder auf seinen Rücken, ohne dass er reagierte.
Inzwischen kannte er die Stelle, an der er den Sandweg verlassen musste, genau. Vorsichtig trug er mich durch das Gebüsch zu der Baumgruppe und setzte mich dort ab. Danach ging alles ganz schnell. Mit einer ruckartigen Bewegung zog er mich an sich, küsste mich und drückte mich dann ganz fest mit meinem Rücken an den Stamm der nächstbesten Platane. Ich hatte überhaupt keine Chance, mich zu wehren oder etwas zu sagen. Der entschlossene Zug um Marcius’ Mund und sein gequälter Blick machten mich zusätzlich stumm. Also starrte ich ihn nur an. Die Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah.
»Jetzt der nächste Baum!«
»Bitte nicht!« Ich hätte genauso gut einen Stein anflehen können. Marcius tat so, als hätte er mich nicht gehört, und trug mich nach und nach von einem Baum zum nächsten, da ich nicht bereit war, nur einen einzigen Schritt zu machen. Nachdem ich an jedem Stamm, den es im Umkreis von acht Metern gab, mehrere Sekunden gelehnt hatte, ohne dass irgendetwas passierte, gab Marcius auf. Erschöpft gingen wir beide in die Knie. Wir hockten uns einander gegenüber, jeder an einem Baum gelehnt.
»Warum hast du das getan?«, fragte ich nach einer Weile. Eigentlich wollte ich wütend auf ihn sein, aber es gelang mir nicht. Er sah so verzweifelt aus.
»Weil es das Richtige ist!«
»Mar-ci-us!« Drei Silben voller Vorwurf.
»Was erwartest du?! Ich habe dir schon neulich auf dem Janiculum gesagt, dass wir es regelmäßig probieren müssen. Es wird Zeit, endlich damit anzufangen. Du kannst hier nicht bleiben. Du musst zurück in deine Welt und zu deinen Eltern. Ich weiß, du vermisst sie.« Er stand auf und wischte sich die Hände an seiner Tunika ab.
»Und ich habe dir auf dem Janiculum gesagt, ich kann das nicht jeden Tag machen. Ich halte das einfach nicht aus.«
»Ich weiß, du hast das gesagt, und ich habe viel zu lange darauf Rücksicht genommen. Das geht jetzt nicht mehr.« Er nahm mich an die Hand und führte mich zurück auf den Sandweg.
»Wieso, was ist passiert?«
»Ich darf nicht darüber sprechen. Aber was soll’s. Du weißt es vermutlich sowieso. Der Senat hat Julius Cäsar vor Kurzem dazu aufgefordert, sein Amt in Gallien niederzulegen und seine Truppen aufzulösen ...«
»Und er hat sich geweigert«, beendete ich Marcius’ Satz.
»So ist es. Gestern hat ein Bote dem Senat die Nachricht überbracht.«
»Was nun?«
»Sag du es mir!« Er blieb stehen und schaute mich eindringlich an.
Ich senkte den Blick und kaute auf meiner Unterlippe. An sich gab es keinen Grund dafür, dennoch fühlte ich mich wie eine Verräterin.
»Verstehst du jetzt, warum wir es wieder und wieder probieren müssen? Es wird Krieg geben. Du kannst hier unmöglich bleiben«, sagte er mehr zu sich selbst, als zu mir.
»Ich will das aber nicht!«
Marcius schwieg und blickte zum Himmel.
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