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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Pressemitteilungen und unausgegorene Entwürfe, aus denen vielleicht etwas Brauchbares zu machen war. Fanden wir dann ein Thema, polierten wir jeden Satz wie Flaubert und beteten, die Redakteure möchten einen vielversprechenden Schimmer in unserer Arbeit erkennen. Keiner von uns gab die Hoffnung auf, dass er oder sie auserwählt würde und der einzigartige Volontär wäre, sui generis, der die Redakteure ihre Verachtung für alle anderen vergessen ließ.
    Monatelang bemühte ich mich wie alle anderen. Und dann gab ich auf, genau wie in Yale. Diesmal drohte jedoch keine Verweisung. Die einzige Konsequenz für mein Nichtbemühen war ein leichtes Bedauern und jenes alte flaue Gefühl, dass Versagen mein Schicksal war. Alle stärkeren Bedenken hinsichtlich meiner Entscheidung, mich nicht mehr anzustrengen, ließen sich schnell im Publicans mildern, wo es von Menschen wimmelte, die sich schon lange nicht mehr für etwas anstrengten. Je häufiger ich über die Times jammerte, umso beliebter wurde ich in der Bar. Auf meine Erfolge waren die Männer stolz, mein Versagen aber zelebrierten sie. Ich nahm es wahr, dann ignorierte ich es ebenso wie die Tatsache, dass die Katerstimmung nach langen Publicans-Nächten mitunter auf mein Gemüt drückte, meine Arbeitsleistung hemmte und meine mageren Chancen auf Beförderung völlig zunichte werden ließ.
    Etwa um die gleiche Zeit, als ich aufhörte, mich in der Times anzustrengen, machte ich noch etwas Verwirrenderes. Ich meldete mich nicht mehr bei meiner Mutter. Ich hatte mir angewöhnt, sie alle paar Tage abends von der Redaktion aus anzurufen, um ihren Rat und ihre Ermutigung zu suchen oder um ihr den Anfang dessen vorzulesen, was ich gerade schrieb. Nach unseren Gesprächen war ich immer leicht enttäuscht, nicht weil sie mir nicht geholfen hatte, sondern im Gegenteil. Sie half mir zu viel. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt. Ich wollte nicht mehr auf meine Mutter angewiesen sein. Außerdem wollte ich nicht daran erinnert werden, dass meine Mutter eigentlich auf mich angewiesen sein sollte. Inzwischen hätte ich sie längst finanziell unterstützen müssen. Ich hatte gehofft, 1988 könnte sie in ein von mir gekauftes Haus ziehen, und ihre größte Sorge wäre dann, was sie morgens zum Golfunterricht anziehen soll. Stattdessen verkaufte sie immer noch Versicherungen, kam immer noch gerade so über die Runden und versuchte nach wie vor zu Kräften zu kommen. Ich redete mir ein, dass ich testen wollte, wie gut ich zurechtkäme, wenn statt meiner Mutter die Männer meine Mentoren wären, und dass es gut für einen jungen Mann war, sich von seiner Mutter zu distanzieren, aber in Wirklichkeit distanzierte ich mich lediglich von unerfüllten Versprechungen und den schrecklichen Schuldgefühlen ihr gegenüber, weil ich sie nicht versorgen konnte.
    Ein Embargo gegen meine Mutter zu verhängen erleichterte es mir, mein Nichtbemühen bei der Times zu rechtfertigen und meine volle Aufmerksamkeit dem Alptraum meiner Mutter zu schenken: dem Barroman, der mittlerweile nicht mehr 1001 Abenteuer im Publicans hieß. Das Aladin-Motiv hatte nicht gefruchtet. Jetzt hieß der Roman Früchte des Korns wenn ich ihn nicht gerade ›Sturm im Wasserglas‹ nannte, wenn ich ihn nicht gerade. Hier kommt jedermann nannte, eine Wendung aus Finnegans Wake. Ich hatte haufenweise Material. In all den Jahren hatte ich Schuhschachteln mit Cocktailservietten gefüllt, auf denen ich zufällige Eindrücke, Dialogfetzen, in der Kneipe mitgehörte Bemerkungen festgehalten hatte, beispielsweise, als Colts Bruder, der für ihn hinter der Theke eingesprungen war, einen Gast anbrüllte: »Lach nicht über mich! Lass das, Kumpel! Meine Mutter hat über mich gelacht, und da ließ ich sie grundlos operieren.«
    Jeden Abend hörte ich mindestens einen Satz, der einen idealen Kapitelanfang oder -schluss geliefert hätte. »Du bist wirklich unverfroren«, sagte ein Mann zu seiner Freundin. »Bin ich nicht«, sagte sie trocken, »mir ist nur immer kalt.«
    »Und, hast du sie gevögelt?«, fragte Onkel Charlie einen Mann. »Unmöglich, Goose«, erwiderte der Mann. »Ehrlich – sie hat mich gevögelt.« Einmal hörte ich mit, wie zwei Frauen über ihre Freunde redeten. »Er hält mich für eine dreifache Gefahr«, sagte die erste Frau. »Was meint er damit?«, fragte die zweite Frau. »Er sagt, ich bin sehr klug und habe tolle Titten.« Die zweite Frau zählte an den Fingern nach, dann brüllte sie vor Lachen.
    Als ich mich in der

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