Tender Bar
einsah, dass Jimbo ein Sohn des Publicans und deshalb mein Bruder war, tat mir mein unfreundliches Verhalten leid. Ich entschuldigte mich.
»Vergiss es«, sagte er, und meinte es auch. Das war eine der Eigenschaften, die ich so an ihm mochte.
Dalton kam herein. Er winkte mit einer Erstausgabe von LP. Donleavys Ginger Man, die er sich von Onkel Charlie ausgeliehen hatte. »Heute eine rare Frühlingssonne‹«, brüllte er mir ins Ohr. »So geht der erste Satz in diesem Roman. Das ist Poesie, Blödmann. So klingt die verdammte englische Sprache. Ich mag dich, Blödmann, aber ganz ehrlich, einen so guten Satz wirst du nie schreiben.«
»Kein Widerspruch«, sagte ich.
»Mann!«, sagte Jimbo vorwurfsvoll zu Dalton. »Sei nicht so hart.«
Ich sah Jimbo an. Es war noch keine Minute her, da hatte ich ihn angemacht, und jetzt verteidigte er mich. Auch das war eine Seite an ihm, die ich sehr mochte.
Onkel Charlie kam an. Er hüpfte hinter die Theke, um Mapes abzulösen, und tauchte mitten in unseren literarischen Salon. Er zitierte seine Lieblingsstellen aus Ginger Man, und schon bald tauschten wir Zitate und Stellen aus den Werken unserer liebsten Schriftsteller aus – Kerouac, Mailer und Hammett. Jemand erwähnte den Kultklassiker Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf von Irwin Shaw. Ein anderer verglich ihn mit einer Kurzgeschichte von Herman Melville.
»Melville!«, sagte Onkel Charlie. »Der Beste von allen. Billy Budd. Habt ihr das mal gelesen? Budd ist Christusgleich.« Onkel Charlie verdrehte die Augen himmelwärts und breitete die Arme aus, als würde er gekreuzigt. »Billy geht bereitwillig an den Galgen, weil er weiß, er hat einen Fehler gemacht. Kapiert? Er hat Claggart versehentlich getötet, dafür muss er zahlen. ›Gott segne Kapitän Vere‹, sagt Billy, als man ihm die Schlinge um den Hals legt, denn Gesetze müssen befolgt werden. Ohne Gesetze gäbe es Anarchie. Billy hat einen Fehler begangen und zahlt ihn mit seinem Leben – er zahlt bereitwillig, weil er an Gesetze glaubt, auch wenn er sie gebrochen hat. Könnt ihr mir folgen?«
»lch glaube, das haben wir in der Highschool gelesen«, sagte Jimbo. »Hilf mir mal-wovon handelt das noch?«
Er stieß mir einen Ellbogen in die Rippen. Ich musste lachen. Dann entdeckte ich Bob the Cop am Zigarettenautomaten. Auf seinem Gesicht lag ein drohender Ausdruck, woraus ich schloss, dass er vermutlich hereingekommen war, als ich es nicht gesehen hatte, und er vermutlich meine unfreundliche Bemerkung Jimbo gegenüber gehört hatte. Und jetzt hielt er mich vermutlich für einen Dummkopf.
Am nächsten Abend kam Bob the Cop zu mir an die Theke, zog mich in die Ecke und drückte mich gegen den Zigarettenautomaten. Mir wurde schlagartig bewusst, wie man sich fühlte, wenn man von Bob the Cop hinter Schloss und Riegel gebracht wurde. »Gestern Abend habe ich zugehört«, sagte er. »Deinem kleinen Vortrag über Bücher.«
»Ja. Meine Stimmung war nicht die beste. Ich hätte nicht so streng mit Jimbo sein dürfen, aber …«
»Ich habe nicht studiert. Das weißt du. Ich bin gleich nach der Highschool an die Polizeiakademie. Mein Vater war Polizist, mein Großvater, was also sollte ich sonst werden, stimmt’s? Eigentlich denke ich nicht viel darüber nach, aber immer wenn ich euch über Bücher reden höre, habe ich das Gefühl – ich weiß nicht. Als hätte ich was verpasst.«
Ich wollte mich entschuldigen, aber er hielt die Hand hoch. Bob, der Verkehrstop.
»Ich bin Polizist«, sagte er. »Nicht mehr und nicht weniger. Ich mache mir nichts vor. Aber manchmal denke ich mir, da muss noch mehr sein. Ich müsste mehr sein. Ist dir aufgefallen, dass alle immer Bob the Cop zu mir sagen? Nie Bob der Vater, Bob der Angler. Und bestimmt schon gar nicht Bob der Bücherwurm. Mich ärgert das. Dich nennt nie jemand J.R. der Volontär.«
»Gott sei Dank«, sagte ich.
»Jedenfalls«, sagte Bob the Cop, »habe ich nachgedacht. Mir ist eingefallen, dass ich so viele Bücher in deine Wohnung schleppte, als ich dir umziehen half, und ich dachte mir, vielleicht … du weißt schon.« Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht. »Ich dachte eben«, sagte er unsicher, »wenn du vielleicht Bücher hast, die du nicht benutzt.«
Mein erster Gedanke war, dass ich, genau genommen, keines meiner Bücher benutzte. Ich wusste, Bob the Cop sah Bücher als Werkzeuge, so wie die meisten Dinge. Selbst seine Drinks hießen wie Werkzeuge: Screwdrivers und Rusty Nails. Ich wollte ihm
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