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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Redakteur seine Schuhe über Jahre hinweg bei dem gleichen alten Schuster in Italien gekauft hatte. Ich fragte mich, ob das wohl stimmte. Auch von seiner Affäre mit einer bekanntermaßen umtriebigen Filmschauspielerin hatte ich gehört und von seiner zutiefsten Ernüchterung, als er feststellte, dass ihre Brüste nicht echt waren.
    Er legte auf, verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch und erkundigte sich nach meinem langen Wochenende. Ich erzählte ihm von meinem Besuch in Yale. »Hatte ganz vergessen, dass Sie ein Yalie sind«, sagte er. »Ja«, sagte ich. Er lächelte wieder. Ein Steve-Lächeln, aber nur fast. Ich musste lächeln.
    »Nun denn«, sagte er. »Wie Sie sicher schon vermutet haben, konnten die Redakteure Ihre Arbeit eingehend prüfen – und sie ist gut. Ein paar der Stücke, die Sie für uns gemacht haben, sind wirklich großartig. Deshalb wäre mir lieber, ich hätte eine bessere Nachricht für Sie. Sie wissen, wenn der Ausschuss zusammenkommt, um über einen Kandidaten zu befinden, bringen manche Redakteure ihre Zustimmung zum Ausdruck, andere nicht. Es wird abgestimmt. Ich darf Ihnen nicht sagen, wer wie und warum gestimmt hat, doch leider lautet das Ergebnis, dass ich Ihnen keine Stelle als Reporter anbieten kann.«
    »Verstehe.«
    »Einige vertraten die Ansicht, Ihnen fehle noch etwas Erfahrung. Ein bisschen Biss. Eine kleinere Zeitung vielleicht, bei der Sie lernen und wachsen können.«
    Er sagte nichts von Brezelbränden und Kelly-Falschschreibungen. Er rührte nicht an meine unregelmäßige Produktivität, erwähnte nicht meinen Entschuldigungsbrief. Er war ein Muster an Mitgefühl und Takt. Er betonte, ich könne bei der Times bleiben so lange ich mochte. Wenn ich es aber vorzöge zu gehen, wenn ich die harte Schreiberfahrung suchte, die nur durch tägliches Schreiben unter Zeitdruck zu erreichen sei, hätte die Times gewiss Verständnis dafür und die Redakteure würden mir viel Glück wünschen und mich mit glühenden Empfehlungsschreiben verabschieden.
    Natürlich hatte er recht. Mir einzubilden, ich könnte die Position eines erfahrenen Reporters bei der Times ausfüllen, war absurd und anmaßend. Ja, ich brauchte noch jede Menge Biss, mehr als er ahnte. Ich dankte ihm Tür seine Zeit und wir gaben uns die Hand. Mir fielen seine Finger auf Schmal und manikürt. Fester Griff, die Haut weich, aber nicht weiblich weich. Es waren die Hände eines Konzertpianisten, eines Zauberers, eines Chirurgen. Die Hände eines reifen Mannes, anders als meine mit der zerzutzelten Nagelhaut und den nikotinverfärbten Fingerspitzen. Meine Hände glichen denen eines Gassenjungen. Seine Hände hatten Berichte aus Kriegsgebieten getippt und die Brüste von Filmschauspielerinnen gestreichelt. Meine hatten schlimme Schnitzer und absurde Rechtschreibfehler begangen und sich mit einer gewissen kreativen Leichenstarre regelmäßig in Klauen verwandelt. Ich hätte gern einen Tag lang Hände mit ihm getauscht. Und Haare. Dann verachtete ich mich für diesen Wunsch. Dieser Mann hatte mir eben mitgeteilt, ich sei nicht gut genug, und trotzdem mochte ich ihn noch und beneidete ihn um sein Aussehen. Bei den letzten, aufmunternden Worten, die er mir mit auf den Weg gab, hörte ich nicht mehr zu. Ich sagte mir: Werde endlich sauer! Bestimmt wäre es heilsamer, den Redakteur anzuschreien oder ihn bewusstlos zu schlagen. Joey D würde sich auf diesen Kerl stürzen, Füße voran, auf direktem Weg über den Schreibtisch. Joey D würde den Redakteur an seinem strohblonden Haar, seiner seidig glänzenden Frisur packen – wie viel gab der Mann wohl für Festiger aus? – und die Schreibtischplatte mit ihm wischen. Ich wäre gern Joey D gewesen. Oder dieser Redakteur, der mich jetzt aus dem Büro führte und mir die Tür vor der Nase zumachte.
    Stundenlang lief ich durch Manhattan und versuchte nachzudenken. Aus einer Bar in Penn Station rief ich schließlich meine Mutter an. Sie sagte, sie sei stolz auf meine Bemühungen. »Warum kommst du nicht nach Arizona?«, fragte sie. »Fängst von vorne an.«
    »Ich gehe ins Publicans.«
    »Ich meinte nicht jetzt, sondern demnächst.«
    Doch mein »demnächst« war das Publicans, weiter konnte ich nicht denken.
     
     
     
40 | SECRETARIAT
     
    Ich nahm mir bei der Times eine Woche frei und schloss mich in meine Wohnung ein. Nur zweimal am Tag verließ ich das Haus: Ich frühstückte im Louie the Greek’s, und in der Abenddämmerung ging ich ins Publicans. Den Rest der Zeit saß

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