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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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es kein in den Seilen hängen. Sie ließ eine Wortkaskade auf ihn niederprasseln, nannte ihn eine Ratte, einen Idioten, einen Versager, eine Missgeburt. Ich wollte mich zwischen die beiden zwängen, Tante Ruth bitten aufzuhören, doch nachdem ich längere Zeit aus dem Haus war, hatte ich vergessen, dass Tante Ruths Wut wie der Wind war. Wenn er wehte, wehte er. Wenn er aufhörte, hörte er auf. Auch als kleine Jungen hatten wir nie gewusst, wo wir uns verstecken sollen, aber jetzt fühlten wir uns besonders ausgeliefert. Meine Wohnung war weg, das Publicans war für die Nacht geschlossen, und wir besaßen beide kein Auto. Von Oma und Opa konnten wir ebenfalls keine Hilfe erwarten. Sie waren noch nie scharf darauf gewesen, sich mit Tante Ruth anzulegen, und jetzt, da sie älter waren, gingen sie ihr meist aus dem Weg.
    McGraw und mir blieb nichts weiter übrig, als im hinteren Schlafzimmer ins Bett zu gehen und den Sturm zu überstehen. Tante Ruth beschimpfte uns noch eine geschlagene halbe Stunde ohne Unterbrechung, dann hörte sie plötzlich auf und knallte die Tür zu. Wir lagen auf dem Rücken, versuchten unseren Atem zu beruhigen und unsere Herzfrequenz zu verringern. Ich schloss die Augen. Fünf Minuten vergingen. McGraw schnaufte immer noch schwer. Dann flog die Tür auf, und Tante Ruth fing wieder an.
    Am nächsten Morgen saß sie am Küchentisch und wartete, um weiter zu machen.
    So ging es jeden Abend. Tante Ruth wartete, bis wir vom Publicans kamen, und sobald wir durch die Tür traten, keifte sie los. Uns blieb nur eine Möglichkeit. Wir verließen das Publicans nicht mehr. Wir versteckten uns bis zum Morgengrauen in der Bar, weil selbst Tante Ruth nicht so lange wach bleiben konnte. Unsere Strategie war idiotensicher. Tante Ruth wusste, dass wir uns vor ihr versteckten, und sie wusste auch wo, aber sie war machtlos. In ihrem aufgewühlten emotionalen Zustand erkannte selbst sie die unantastbare Neutralität der Bar an, ähnlich einer Schweizer Botschaft. Ihr war klar, dass Onkel Charlie und die Männer nicht für eine Mutter eintreten würden, die ihren Sohn in der Kneipe überfiel, auch wenn sie manchmal eine von McGraws jüngeren Schwestern vorbeischickte, um mit ihm zu reden und ihn in Verlegenheit zu bringen. Bei diesen Gelegenheiten waren McGraws Schamgefühl und seine Ahnung, alles schon einmal erlebt zu haben, seine Angst, jetzt offiziell wie sein Vater zu sein, geradezu greifbar und führten dazu, dass wir alle etwas mehr tranken.
    Im Hochsommer suchten McGraw und ich nach einer dauerhafteren und radikaleren Fluchtmöglichkeit als dem Publicans. Er würde bei Nebraska kündigen, ich bei der Times, und dann würden wir mit dem Rucksack durch Irland ziehen, in Jugendherbergen übernachten, wenn wir Geld hatten, oder auf saftigen grünen Feldern unter den Sternen schlafen, wenn wir pleite waren. Wir würden Gelegenheitsjobs annehmen, vorzugsweise in Pubs, aus denen irgendwann Vollzeitjobs würden, die es uns ermöglichten, nie wieder zurückkehren zu müssen. Wir skizzierten die Einzelheiten unseres Plans mit großem Ernst auf Cocktailservietten, als handle es sich um etwas weitaus Heldenhafteres und Komplizierteres als eine Kneipentour. Wir erzählten den Männern von dem Plan, und sie fanden ihn gut. Er erinnerte sie an ihre eigenen Reisen in jungen Jahren. Joey D erzählte uns von seiner Reise in die Karibik mit Onkel Charlie. Eine Voodoo-Frau warf einen Blick auf Onkel Charlie und sagte nur: »Er böser Zauber.« Bei der Erinnerung daran musste Joey D Tränen lachen, die er sich mit einer unserer Cocktailservietten abwischte, auf die wir unsere Irland-Pläne gezeichnet hatten.
    Ich rief meine Mutter an und erzählte ihr von Irland. Sie seufzte. Du brauchst keinen Urlaub, sagte sie, du musst wieder in die Hufe kommen. Bewirb dich bei kleinen Zeitungen, tu, was sie dir bei der Times empfohlen haben, in ein paar Jahren bewirbst du dich dann wieder dort. Für mich klang es nach dem gleichen alten Du-musst-es-immerwieder-versuchen-Quatsch, der zu nichts geführt hatte und von dem ich mich verabschieden wollte. In Anlehnung an McGraw erklärte ich meiner Mutter, ich sei »müde«, vergaß dabei allerdings, mit welcher Bedeutung dieses Wort für sie aufgeladen war. Sie sei seit zwanzig Jahren müde, sagte sie. Seit wann war Müdigkeit ein Grund, alle Hoffnung aufzugeben?
    McGraw und ich hatten jetzt noch etwas gemeinsam. Außer dass unsere beruflichen Laufbahnen zum gleichen Zeitpunkt ein Ende fanden,

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