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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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mein Fisch gewonnen.«
    Jedd grinste über meine originellen Lügen.
    Unmittelbar südlich des Grand Canyon riss Jedd das Steuer scharf nach rechts und polterte mit dem Pickup auf den Seitenstreifen. Er riss die Handbremse hoch. Sie knackte wie sein Nacken. »Scheint mir ein guter P!atz zu sein«, sagte er.
    »Wofür?«
    »Um einen Schneemann zu bauen.«
    »Wie?«
    »Wie! Wofür! Mehr fällt dir nicht ein? Du nimmst einen Schneeball und rollst ihn am Boden, bis er groß ist. Ganz einfach.«
    In null Komma nichts standen wir einem über zwei Meter großen Schneemann gegenüber. Jedd setzte ihm 25-Cent-Stücke als Augen ein und einen Hotdog aus der Kühltasche als Nase. Er sah aus wie Joey D, fand ich. Jedd steckte ihm noch eine Marlboro in den Mund. »Sollen wir sie anzünden?«, fragte ich.
    »Nein. Das hemmt sein Wachstum.«
    Ich starrte den Schneemann an. Die Sonne glitzerte auf den Münzen und ließ den Eindruck entstehen, als würden seine Augen glitzern. Ich hielt Jedd für ein Genie. Nein – für einen Gott. War nicht die wichtigste Vorbedingung zum Gottsein, einen Mann aus dem Nichts zu schaffen?
    »Wir schlagen unser Lager hier auf«, sagte Jedd. »Gleich neben Frosty.«
    Er fuhr den Pickup in den Wald und breitete daneben eine Decke aus, auf die er einen Sack mit Schrauben, Pflöcken und Stangen kippte. Nach zehn Minuten stand ein Zelt auf dem Boden, in das er Schlafsäcke, Kissen und ein Radio packte. »Futterzeit«, sagte er und schaute kurz auf die untergehende Sonne. Er zeigte mir, wie man Holz sammelt, wie man einen Feuerhaufen stapelt, wie man einen Hotdog an einem Stock grillt. Wir aßen auf einem Baumstumpf und sahen, wie der Wald sich mit Dunkelheit füllte. Ich spulte das Abendessen mit mehreren Dr.-Pepper-Limonaden hinunter, während Jedd sich durch einen Sixpack Coors trank. »Bier ist unglaublich«, sagte er und hielt mir die Flasche vor die Nase. »Nahrhaft. Heilend. Ein Getränk, aber auch eine Mahlzeit.«
    »Bobo sagt, kaltes Bier an einem heißen Tag ist Grund genug, keinen Selbstmord zu begehen.«
    »Bobo scheint ein sehr weiser Mann zu sein.«
    Als Nachtisch gab es geröstete Marshmallows, und hinterher brachte Jedd mir bei, wie man das Feuer löscht und wie man Essensreste aufhängt, um Bären fernzuhalten. Er zog den Reißverschluss an meinem Schlafsack zu, dichtete das Zelt ab und schaltete das Radio ein. »Hier draußen im Niemandsland«, sagte er, »kannst du alle möglichen Sender empfangen und Baseballspiele aus dem ganzen Land hören.« Mein Herz klopfte, als er am Senderknopf drehte und wir Stimmen aus Los Angeles und Salt Lake City und Denver hörten. Ich war kurz davor, ihm von der Stimme zu erzählen, überlegte es mir aber anders. Stattdessen erzählte ich ihm noch einiges von Manhasset. Und von Steve, der einmal einen Streifenwagen stahl und die ganze Stadt verhaften wollte; von Wilbur, der immer mit dem Zug fuhr. Bestimmte Themen wie Opas Haus mied ich. Ich wollte nichts preisgeben, was Jedd abhalten könnte, in unsere Familie einzuheiraten. Mitten in meinem Monolog fing er zu schnarchen an. Ich holte das Radio in meinen Schlafsack. Diese Gelegenheit durfte ich nicht vorübergehen lassen, ohne nach der Stimme zu suchen – doch es gab zu viele Stimmen, zu viele Städte. Es war zugleich beängstigend und beglückend. Der Himmel war voller Stimmen, mehr Stimmen als Sterne, und wie die Sterne schwebten sie über mir, auch wenn ich sie nicht sehen konnte.
    Bei Tagesanbruch weckte mich Jedd mit einem Becher Kaffee, dem ersten in meinem Leben. Obwohl ich ihn mit reichlich Milch und Zucker streckte, kam ich mir vor wie ein echter Waldarbeiter, der einen Becher Cowboykaffee an der Asche unseres Lagerfeuers trank. Jedd machte uns eine Pfanne Eier mit Speck, und nach dem Frühstück sagte er, es sei Zeit für die Rückfahrt. Als wir auf den Highway bogen, schaute ich zurück. Der schmelzende Schneemann schien die Schultern hängen zu lassen, als wäre er traurig, dass wir gingen.
    Die Heimfahrt schien nur zehn Minuten zu dauern. Als wir in die heiße Wüste hinunterfuhren, spürte ich einen Knoten in der Kehle. »Ich hasse Kaktusse«, grummelte ich.
    »Ich mag sie«, sagte Jedd. »Weißt du, warum sie so große Arme haben?«
    »Nein.«
    Er zündete sich eine Marlboro an. »Wenn ein Kaktus sich auf eine Seite neigt«, sagte er, »wächst ihm auf der anderen Seite ein Arm, damit er wieder gerade wird. Wenn er dann langsam in die Richtung des neuen Arms kippt, wächst ihm auf der

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