Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
geschafft.«
    Die Nachricht drückte bei beiden Männern noch mehr auf die Tränendrüsen als bei meiner Mutter.
    »Jetzt muss er ordentlich loslegen«, sagte Bill zu Bud, der sich über die Augen wischte, die Nase putzte, an seiner Faust schnupperte. »Mann-o-Mann, diesen Sommer muss er noch wahnsinnig viel lesen.«
    »Plato«, sagte Bud. »Er muss sofort Der Staat lesen.«
    »Ja, ja«, sagte Bud, »sie fangen bestimmt mit den Griechen an, kein Zweifel. Aber vielleicht sollte er ein paar Dramen lesen. Aischylos? Antigone? Die Vögel?«
    »Was ist mit Thoreau und Emerson? Bei Emerson kann er gar nicht falsch liegen.«
    Sie gingen mit mir durch den Laden und füllten eine Einkaufstüte mit umschlaglosen Büchern.
    An meinem letzten Arbeitstag im Buchladen standen Bill und Bud mit mir im Hinterzimmer, aßen Bagels und tranken Champagner. Eine Abschiedsparty, obwohl sie eher an eine Beerdigung erinnerte. »Hör mal«, sagte Bill zu mir, »Bud und ich haben uns Gedanken gemacht.«
    Sie sahen mich an wie einen Vogel im Käfig, den sie gleich in die freie Wildbahn entlassen wollten.
    »Vielleicht wäre es klug«, sagte Bud, »wenn du deine Erwartungen nicht allzu hoch hängst.«
    »Ihr seid … besorgt um mich?«, sagte ich.
    Bill räusperte sich. »Wir glauben nur, es gibt ein paar Dinge, auf die du nicht …«
    »Vorbereitet bist«, ergänzte Bud.
    »Zum Beispiel?«
    »Desillusionierung«, sagte Bud, ohne zu zögern.
    Bill nickte.
    Mir kam fast der Champagner durch die Nase.
    »Ich dachte, ihr würdet Alkohol und Drogen sagen«, entgegnete ich. »Oder Mädchen. Oder reiche Studenten. Oder fiese Professoren. Aber -Desillusionierung?«
    »Desillusionierung ist gefährlicher als alle diese Dinge zusammengenommen«, sagte Bud.
    Er erklärte mir warum, aber ich hörte nicht zu. Ich musste zu sehr lachen. »Versprochen«, sagte ich. »Ich werde mich vor Desillusionierung in Acht nehmen. Ha ha ha!« Bud schnüffelte heftig an seiner Faust. Bill strich seine Strickkrawatte glatt. Arme Trottel, dachte ich. Das ständige Verstecken im Hinterzimmer hatte ihr Denken verzerrt. Desillusionierung. Wie soll ich desillusioniert sein, wenn von jetzt an alles perfekt läuft?
    Wir schalteten die Lichter aus und verließen den Laden. Ich gab ihnen die Hand und ging in die eine, sie in die andere Richtung, und das war das Letzte, was ich je von Bill und Bud sah. Als ich an Weihnachten nach Arizona zurückkam und in den Laden ging, erzählte mir ein Mann an der Kasse, man hatte die beiden entlassen. Den Grund mochte er mir nicht nennen, und ich konnte nur hoffen, dass es nicht mit den vielen einbandlosen Büchern zusammenhing.
    »Wie willst du ohne mich zurechtkommen?«, fragte ich meine Mutter am Flughafen.
    Sie lachte, bis sie merkte, dass es mir ernst war. »Kümmere dich einfach um dich«, sagte sie. »Allein der Gedanke an die herrlichen Erfahrungen, die auf dich zukommen, macht mich glücklich, da kannst du sicher sein.«
    Ich wollte den Sommer über in Arizona bleiben, noch ein wenig Zeit mit meiner Mutter verbringen. Kommt nicht in Frage, sagte sie. Sheryl hatte mir wieder den Job in der Anwaltskanzlei besorgt, damit ich mir etwas Taschengeld fürs College verdienen konnte, außerdem wollte meine Mutter, dass ich so oft wie möglich mit Onkel Charlie und den Männern zum Gilgo Beach fuhr.
    Wir saßen da und warteten, dass mein Flug aufgerufen wurde. Da wir beide den Bildschirm mit den Abflug- und Ankunftszeiten betrachteten, erinnerte ich sie an die vielen Abschiede und Wiedersehen in unserem gemeinsamen Leben. Meine Mutter hakte sich bei mir unter. »Du hast oft Ferien«, sagte sie. »Bevor du dich versiehst, bist du wieder – daheim.«
    Sie zögerte immer noch vor dem Wort.
    Mein Flug wurde abgefertigt.
    »Geh jetzt lieber«, sagte meine Mutter.
    Wir standen auf.
    »Ich sollte bleiben. Wenigstens ein paar Wochen.«
    »Geh.«
    »Aber …«
    »Geh JR«, sagte sie. »Bitte.«
    Wir sahen uns an, aber nicht, als würden wir uns jetzt lange nicht mehr sehen, sondern als hätten wir uns schon lange nicht mehr gesehen. Wir hatten uns immer so fest darauf konzentriert, durchzukommen und reinzukommen, dass wir uns jahrelang nicht mehr richtig wahrgenommen hatten. Jetzt sah ich sie an, ihre grünbraunen Augen waren feucht, die Lippen zitterten. Ich drückte sie an mich und spürte, dass sie mich fester umarmte als jemals zuvor. »Geh«, sagte sie. »Bitte geh einfach.«
    Als ich im Flugzeug saß und darauf wartete, dass wir vom Flugsteig

Weitere Kostenlose Bücher