Teranesia
drückte.
»Weißt du, wir hätten dich dieses Jahr beinahe auf die Schule geschickt. Hätte dir das gefallen?« Seine Mutter sprach ohne eine Spur von Sarkasmus, als wäre die Antwort alles andere als offensichtlich.
Prabir sagte nichts. Schließlich hatte er es nicht seiner Mutter zu verdanken, dass dieser Kelch an ihm vorbeigegangen war; nur der Krieg hatte ihn vor der Verbannung bewahrt.
»Zumindest hättest du all dem hier entfliehen können«, sagte sie.
Prabir behielt die Arbeit im Auge und bemühte sich, Madhusrees Drang zu wahllosen Verzierungen auszugleichen, doch er dachte an das Gespräch zwischen seinen Eltern zurück, das er draußen vor der Schmetterlingshütte belauscht hatte. Seine Mutter hatte zwar vorgeschlagen, ihn zu ihrer Cousine nach Toronto zu schicken… aber genau das hatte letztlich dazu geführt, dass sein Vater gar nicht mehr von der Idee angetan war, eine Reaktion, die sie eigentlich nicht hätte überraschen dürfen. Vielleicht hatte er viel zu streng über sie geurteilt. Vielleicht hatte sie sich in Wirklichkeit darum bemüht, ihn hier zu behalten.
»Wenn ich fort wäre«, sagte er, »würde ich mir große Sorgen um euch machen. So weiß ich, dass ihr alle in Sicherheit seid.«
»Das ist wahr.«
Prabir blickte sich zu seiner Mutter um; sie lächelte und schien mit seiner Antwort zufrieden, aber trotzdem machte sie einen ungewöhnlich zerbrechlichen Eindruck. Es war eine unbehagliche Vorstellung, dass sie sich von ihm eine Bestätigung erhoffte. Seitdem sie begonnen hatte, Madhusree zu verhätscheln, hatte er sich danach gesehnt, Macht über sie zu besitzen, eine Möglichkeit zu haben, Vergeltung zu üben. Aber nicht so. Wenn ein falsch gewähltes Wort sie wirklich verletzen konnte, war es, als besäße er plötzlich die Macht, die Sonne erlöschen zu lassen.
Der Schriftzug an der Wand ähnelte Prabirs Versuchen, mit den Füßen zu schreiben, aber das Wort war erkennbar. »Gut gemacht, Maddy«, sagte er. »Du hast ›Ilmuwan‹ geschrieben.«
»Mwan«, erklärte Madhusree stolz.
»Ilmuwan.«
»Ilwan.«
»Nein, Il-mu-wan.«
Madhusree verzog das Gesicht und schien losheulen zu wollen.
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte Prabir. »Bald sind wir wieder in Kalkutta, dort spricht niemand Indonesisch. Es ist eine Sprache, die du nie wieder brauchen wirst.«
*
Prabir wachte mitten in der Nacht mit rumorenden Eingeweiden auf. Im Halbschlaf wankte er zur Toilettenhütte. Er hatte immer wieder mit Durchfall zu kämpfen, seit sie sich von den selbstgezogenen Yam-Wurzeln ernährten, aber er war noch nie davon aufgewacht.
Er saß im Dunkeln, während die Tür nicht ganz geschlossen war. Aus dem Verarbeitungstank neben ihm drang ein leises Summen. Innerhalb kürzester Zeit hatte er seine Gedärme entleert, doch die Bauchschmerzen waren fast genauso schlimm wie zuvor. Er atmete ungewöhnlich, viel schneller als sonst, doch wenn er versuchte, den Rhythmus zu verlangsamen, wurden die Schmerzen intensiver.
Er wusch sich die Hände und trat dann hinaus, mitten in den Kampung. Der Himmel zwischen den Bäumen war wie ein Blick in den offenen Weltraum. In Kalkutta hatten die Sterne zahmer gewirkt, beinahe künstlich – so trübe, dass man sie für einen halbherzigen Versuch zur Ergänzung der Straßenbeleuchtung halten konnte. Hier jedoch wäre es niemandem in den Sinn gekommen, sie mit etwas zu verwechseln, das von Menschenhand gemacht war.
Als er wieder in seiner Hängematte lag, wollten die Schmerzen immer noch nicht aufhören. Er verspürte nicht den Drang, sich zu erbrechen oder noch einmal die Toilette aufzusuchen, aber sein Bauch war völlig verkrampft – als wäre er ein Verbrecher, der die Aufdeckung seiner Tat fürchtete. Aber sein Gewissen war nicht unreiner als sonst. Weder hatte er Madhusree übermäßig geärgert noch den Zorn seiner Mutter erregt. Und alles andere hatte er längst mehr als wieder gut gemacht, nicht wahr?
Während der ersten Zeit auf der Insel hatte ihn des Nachts jedes ungewohnte Geräusch geweckt. Dann hatte Prabir geschrien, bis sein Vater gekommen war, um ihn wieder in den Schlaf zu wiegen. Das war wochenlang so gegangen, obwohl er es zum Schluss aus reiner Gewohnheit getan hatte, nicht weil er Angst hatte. Sein Vater hatte ihn niemals ausgeschimpft, sich niemals beklagt. Schließlich hatte es ihm genügt, einfach nur wissen, dass sein Vater zu ihm kommen würde, wenn er ihn brauchte. Prabir musste es nicht mehr ausprobieren, um sich sicher zu
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