Teranesia
Wieder schnitt sie in die Blüte und öffnete sie bis zum Stiel.
Dort stieß sie auf eine Höhlung, die voller Ameisen war. Grant reichte Prabir die Kamera, und er zeichnete alles auf, während sie die Sektion fortsetzte. Sie folgte dem Stiel fünfmal rund um den Stamm, bis sie die gesamte verborgene Stadt freigelegt hatte. Es gab Kammern voller weißer Eier und eine aufgedunsene Königin, die so groß wie ein menschlicher Daumen war.
»Welchen Vorteil hat die Orchidee von dieser Verbindung?«, fragte Prabir.
»Vielleicht nur Nahrungsreste und Exkremente; das könnte schon mehr als genug sein. Oder die Ameisen füttern sie mit etwas Bestimmtem, irgendeinem maßgeschneiderten Sekret, das sie glücklich und gesund hält.« Grant war zweifellos begeistert, aber dann fügte sie wehmütig hinzu: »Irgendjemand wird dieses Phänomen zu seiner Lebensaufgabe machen.«
»Warum nicht Sie selbst?«
Sie zuckte die Achseln. »Das ist nicht mein Stil. Stiftungen um Almosen anzubetteln, um etwas Schönes und Nutzloses tun zu können.«
Prabir hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt. Sie klang so furchtbar defätistisch. »Vielleicht werden Sie in ein paar Jahren anders darüber denken«, sagte er. »Wenn Sie nicht mehr unter solchem finanziellen Druck stehen…«
Grant verzog das Gesicht. »Bevormunden Sie mich nicht, ich hasse das. Kein Wunder, dass Ihre Schwester von zu Hause weggelaufen ist.«
Prabir ging neben der Orchidee in die Hocke. »Zuerst Mimikry, jetzt eine Symbiose. Ihre Genrekonstruktionsenzyme treffen selbst aus der Entfernung von fünfzig Millionen Jahren genau ins Schwarze.«
»Und verbreiten Sie keine Häme, das steht Ihnen nicht. Aber ich gebe es offen zu: Hier geht etwas vor sich, das ich nicht verstehe.«
»Ich glaube trotzdem, dass Ihre Grundidee richtig ist«, sagte Prabir. »Es braucht Jahrtausende, damit sich ein neues, funktionsfähiges Gen entwickelt. Wenn es über Nacht auftritt, muss irgendein fauler Trick dahinterstehen. ›Ich bin schon da‹, sagte der Igel zum Hasen. Wie sonst ließe es sich erklären?«
Grant schien bereit, seine Argumentation zu akzeptieren, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Das kann ich nicht beantworten, aber allmählich sieht es ganz danach aus, dass ich etwas Fundamentales übersehen habe. Vögel mit perfekter Tarnfärbung ohne die Anwesenheit von Raubtieren. Dornige Pflanzen ohne irgendwen, der sich daran die Zähne ausbeißen könnte. Manche Schüsse gehen ins Schwarze, andere weit daneben. Aber selbst die Fehlschüsse sind viel zu präzise ausgeführt.«
Sie hockte sich neben Prabir. Die Ameisen sammelten sich am Riss im Stiel und überzogen ihn systematisch mit einem Geflecht aus einem pappmacheartigen Sekret, tausendmal schneller als eine Pflanze neues Gewebe hätte bilden können. »Wäre es nicht schön, wenn man sie einfach nach der ganzen Geschichte fragen könnte?«, sagte sie. »Wann sie zusammenkamen und das alles arrangiert haben? Warum sie damit aufgehört haben? Warum sie wieder angefangen haben? Was es ist, das wir nicht verstehen?«
*
Am späten Vormittag des zweiten Tages erreichten sie den Mangrovensumpf. Sie waren mindestens einen Kilometer landeinwärts vorgedrungen, aber es gab ein enges Tal, das vom Herz des Dschungels zur Küste verlief, das Bett eines verhinderten Flusses, der so wenig Wasser führte, dass sich bei jeder Flut das Meer hineindrängte. Bei Ebbe standen die halophilen Bäume mit nackten Wurzeln im salzigen Schlamm, aber bis dahin waren es noch Stunden; vorläufig war der Weg überschwemmt.
Grant lugte in das Gewirr aus Ästen und Luftwurzeln. »Es ist nur ein paar hundert Meter breit. Eigentlich müssten wir ohne allzu große Schwierigkeiten hindurchwaten können.«
»Um später bei Ebbe zurückzukehren?«
»Ja.«
Dieser Teil des Plans gefiel Prabir; wenn es schon sein musste, würde er es lieber tun, wenn er noch über all seine Kräfte verfügte.
Er überprüfte noch einmal, ob die Röhrchen mit den Proben, die er gesammelt hatte, verschlossen waren; seine Armbanduhr und das Notepad waren hundertprozentig wasserdicht. Es schien wenig Sinn zu haben, einen Teil seiner Kleidung abzulegen, da sie schließlich ohnehin mit Schlamm in Berührung käme, ganz gleich, wie er sie mit sich führte. Und je mehr Schutz er gegen mögliche Verletzungen durch die Wurzeln hatte, desto besser.
Grant watete bis zu den Knien hinein. Prabir folgte ihr. Jeder Schritt war mit einem enormen Kraftaufwand
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