Teranesia
sprach, standen all ihre Universitätskollegen noch völlig auf dem Schlauch, also haben Sie zweifellos einen großen Vorsprung.«
Grant lächelte ihn matt an. »Danke für das Vertrauensvotum. Aber vergessen Sie nicht, wie lange ich gebraucht habe, bis ich bereit war, meine Vorstellungen zu offenbaren. Glauben Sie wirklich, dass diese Leute sich gegenüber Ihrer Schwester wesentlich offener geäußert haben?«
*
Die dritte Insel war die größte der sechs, die Grant sich ausgesucht hatte, fast drei Kilometer im Durchmesser. Noch vor zwei Wochen wäre das für Prabirs urbanes Empfinden eine Bagatelle gewesen; während seiner Mittagspause hatte er diese Strecke in Toronto häufig zweimal zurückgelegt. Aber das Gebiet war achtmal so groß wie die zwei Inseln zusammen, auf denen sie sich jeweils sechs Tage lang abgemüht hatten, und als er den dichten Dschungel sah, der sich vom Strand bis zu den niedrigen, bewaldeten Hügeln zog, bekam er erstmals ein Gefühl für das Ausmaß der Fläche. Es war eine wesentlich anschaulichere Empfindung als alles, was er erlebt hatte, wenn er über einen Ozean oder einen Kontinent geflogen war. Wahrscheinlich, weil Grant bestimmt wieder Proben von jedem einzelnen Quadratmeter sammeln wollte.
Als sie näher kamen, fanden sie fast direkt voraus eine Lücke im Riff. Es war früher Nachmittag, aber Prabir bat um einen Erholungstag, bevor sie an Land gingen. Schließlich verbrachten sie drei Stunden damit, im Riff zu Schnorcheln und Bilder aufzunehmen, doch ohne Proben zu sammeln. Grants Genehmigung schloss Meereslebewesen aus, und bisher hatten sie auch keine Anzeichen entdeckt, dass es hier zu Mutationen gekommen war.
Das sonnendurchflutete Wasser hatte eine beruhigende Wirkung auf Prabir; es war unmöglich, sich dem Zauber der Farben der Rifffische oder der seltsamen Anatomie der Wirbellosen, die sich an die Korallen klammerten, zu entziehen. Hier war alles wunderschön und fremdartig, atemberaubend und exotisch. Tausend winzige, durchscheinende Fischlarven konnten vor seinen Augen sterben, ohne dass er das geringste Mitgefühl empfand – ganz im Gegensatz zu einem Küken oder einer Maus im Schnabel eines Falken. Es war diese Distanz, die das Spektakel so viel reiner als alles, was sich an Land abspielte, erscheinen ließ: Hier machte derselbe Überlebenskampf nur noch den Eindruck eines metaphorischen Balletts. Falls er hier seine Wurzeln hatte, so spürte er nichts mehr davon; sein Körper hatte sich einen eigenen gezähmten Ozean geschaffen und war zu einer anderen Welt aufgebrochen, als wäre er in den interstellaren Raum entflohen und alles schon viel zu lange her, um sich noch daran erinnern zu können.
Als er schweigend neben Grant auf dem Deck saß und das Salzwasser auf seiner Haut trocknete, fühlte sich Prabir entspannt, klar und voller Hoffnung. Die Vergangenheit war kein unverrückbarer Anker. Was die Evolution geschaffen hatte, konnte durch gezielte Planung übertroffen werden. Es würde immer die Möglichkeit bestehen, sich zu nehmen, was man brauchte, was gut war, um sich dann loszuschneiden und weiterzubewegen.
*
Auf den ersten Blick schien der Dschungel genauso üppig wie jeder andere; dennoch wirkte er auf Prabir eher eintönig, auch ohne den Eindruck durch eine Zählung der Spezies zu quantifizieren. Die Dornsträucher und die Riesenorchideen traten in Hülle und Fülle auf, aber es gab überhaupt nichts, das ihnen irgendwie ähnlich war. Keine nahen Verwandten, nur diese und keine anderen Arten. Abgesehen von allem anderen, das Grants Theorie nicht erklären konnte, es war jedenfalls nicht möglich, die Uhr zu einer Reihe überlebender Verwandtschaftslinien zurückzudrehen und zu erwarten, die anfängliche Vielfalt zu erhalten. Hier wurde man praktisch auf Schritt und Tritt mit evolutionären Flaschenhälsen konfrontiert.
Grant rief ihn zu sich. Sie hatte eine Orchidee mit fest geschlossener Blüte gefunden, aus der die hellblauen Schwanzfedern eines kleinen Vogels herausragten.
»Ich glaube, das hätten Sie mir lieber nicht zeigen sollen«, sagte Prabir.
»Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Was ich wirklich gerne wüsste…« Grant stieß ihr Messer in die weißen Blütenblätter und schnitt das Bündel auf.
Ameisen quollen aus der Öffnung. Und als sie das Messer zurückzog, rutschte das Skelett des Vogels langsam aus der Blüte; darauf wimmelte es von Ameisen.
Sie schnappte hörbar nach Luft. »Okay. Aber es könnte sich nur um Opportunismus handeln.«
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