Teranesia
Kannenpflanzen und Sonnentau benötigten Tage oder Wochen, um ein paar Fliegen zu verdauen, also war es unwahrscheinlich, dass die Orchidee ihm das Fleisch von den Knochen ätzen konnte. Er suchte nach seinem Taschenmesser und bearbeitete damit die Blüte. Sie war zäh und fasrig wie ein Palmblatt, aber nachdem er die Klinge hineingetrieben hatte, konnte er ohne allzu große Mühe weiterschneiden, wobei er das Stück mit dem Käfer heraustrennte. Sofort öffnete sich die Orchideenblüte wieder – vielleicht nur, weil er die Quelle des Berührungssignals entfernt hatte. Aber warum hatte sie nicht genauso auf den Käfer reagiert?
Grant musste etwas von seinem Kampf bemerkt haben, denn sie näherte sich mit sorgenvoller Miene, die sich in ein fragendes Lächeln verwandelte, als sie erkannte, dass er unverletzt war.
Mit Hilfe der Messerklinge gelang es ihm, einen Finger vom Käfer wegzuhebeln. Grant nahm seine Hand und betrachtete, was immer noch an seinem Daumen klebte. »Sehr außergewöhnlich.«
»Gestatten Sie?«, sagte Prabir und zog seine Hand zurück. »Wenn Sie sich noch fünf Sekunden gedulden, können Sie es in aller Ruhe betrachten.« Er schob die Messerspitze zwischen seine Haut und den Panzer des Käfers, bis sich das Insekt schließlich ablöste, aber immer noch mit dem Teil der Orchideenblüte verbunden war.
Grant nahm es entgegen und untersuchte es. »Ich hatte Recht. Es ist ein Köder.«
»Sie belieben zu scherzen.« Prabir nahm die Probe entgegen und hielt sie ins Licht, wobei er das Blütenblatt von der Seite betrachtete. Was er für ein Insekt gehalten hatte, war ein Teil der Pflanze, ein kunstvoll gefärbter Knoten im Blütenblatt. »Um Käfer anzulocken, die sich hiermit zu paaren versuchen?«, sagte er.
»Entweder das oder ein anderes Tier, das denkt, es könnte diesen ›Käfer‹ fressen. Es gibt viele Orchideen, bei denen ein Blütenblatt komplett umgestaltet ist, sodass es wie eine weibliche Wespe oder Biene aussieht, als Köder zur Bestäubung. Aber wenn das Gebilde mit einem derartigen Klebstoff überzogen ist, dürfte es kaum der Pollenübertragung dienen.«
Prabir widmete sich noch einmal der verletzten Orchidee. Am Grund des Blütenkelchs wartete keine Pfütze aus Verdauungssäften, aber vielleicht hätte sie erst dann ein Sekret abgegeben, wenn sie vollständig geschlossen war.
Er gab den Köder an Grant zurück. »Finden Sie nicht auch, dass es der modifizierten Spezies, die Sie vor einigen Tagen entdeckt haben, verblüffend ähnlich sieht?«
»Dunkelgrüne, glänzende Flügeldecken, etwa zwei Zentimeter lang? Haben Sie eine Vorstellung, auf wie viele Käfer diese Beschreibung passen würde?«
»Ich finde, sie sehen völlig identisch aus.« Prabir wartete auf ihren Widerspruch, aber sie blieb stumm. »Wäre es nicht sehr weit hergeholt, hier nur einen Zufall zu vermuten? Dass ein Vorgang, der uralte Gene in dieser Ochidee wiedererweckt, genau dasselbe Erscheinungsbild beim Käfer hervorbringt?«
»Die entsprechenden Arten könnten vor Jahrmillionen koexistiert haben«, verteidigte Grant ihren Standpunkt. »Es ist nicht unvorstellbar, dass zwei unabhängig voneinander rekonstruierte Merkmale eine archaische Mimikry-Erscheinung offenbaren.«
»Aber ich dachte, der Käfer würde nicht zwangsläufig genauso wie einer seiner Vorfahren aussehen. Ich dachte, Sie hätten gesagt, die vermischten Prozesse der Embryonalentwicklung könnten nur zu einer entstellten Anatomie führen.«
»Der Köder könnte ebenfalls eine entstellte Form sein.«
»Sicher. Aber warum auf genau dieselbe Weise? Bei völlig unterschiedlicher Morphogenese?«
Grant warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Ich glaube nicht, dass sie sich ähnlich sehen.«
Sie hatten alles fotografiert; sie mussten also gar nicht warten, bis sie aufs Schiff zurückgekehrt waren, um einen Vergleich anstellen zu können. Prabir lud das Bild und reichte ihr sein Notepad.
Nach fast einer Minute musste Grant eingestehen: »Sie haben Recht. Sie sind sich sehr ähnlich.« Sie blickte auf und sah ihn an. »Dafür habe ich keine Erklärung.«
Prabir nickte ernst. »Keine Sorge, Sie werden schon eine finden. Ihre Hypothese ist immer noch die einzige unter allen, die ich bisher gehört habe, die einigermaßen sinnvoll klingt.«
»Sie wollen sagen«, entgegnete Grant trocken, »im Gegensatz zu Paul Suttons hochgeschätzter Theorie der Göttlichen Kosmischen Ökotropie?«
»So habe ich es nicht gemeint. Als ich zuletzt mit Madhusree
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