Terra Madre
werden laut einer 2007 von der Organisation Siticibo in Zusammenarbeit mit der Banco Alimentare (Lebensmittelbank) durchgeführten Untersuchung täglich 4.000 Tonnen essbarer Lebensmittel weggeworfen. Das entspricht 1,46 Millionen Tonnen pro Jahr.
In Großbritannien – ich zitiere hier das Waste and Resources Action Programme (WRAP) – sind es gar 6,7 Millionen Tonnen pro Jahr ( http://wrap.s3.amazonaws.com/the-food-we-waste.pdf ). Die Amerikaner verschwenden laut Aussage des U.S. Department of Agriculture (USDA), des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums, ein Viertel ihrer Lebensmittel: 25,9 Millionen Tonnen pro Jahr. Eine Studie der Universität von Arizona aus dem Jahr 2004 korrigiert diesen Wert sogar nach oben und spricht von 50 Prozent sämtlicher Lebensmittel [1] . Ein sonderbarer, gleichzeitig erschreckender Wert nennt die auf den Philippinen pro Tag verschwendete Reismenge: Gemäß der National Food Authority sind es 1,2 Millionen Tonnen.
Wie ist es möglich, dass die industrialisierten Länder auf ein solch erbärmliches Niveau an Verachtung und Gleichgültigkeit den Lebensmitteln gegenüber gesunken sind? Kein Zweifel, dass die Auswüchse des Konsumismus einen großen Teil der Schuld tragen, etwa die ständige Suche nach Neuem, die zwangsläufig dazu führt, dass das Alte bedenkenlos über Bord geworfen wird.
Im global-industriellen Lebensmittelsystem wendet sich alles gegen das Bewahren und Sparen: die Unsitte des packaging, das Haltbarkeitsdatum der Produkte, die immer größeren Portionen, die Fertigprodukte. Wer die Verschwendung mit eigenen Augen sehen möchte, braucht nur zum Hinterausgang eines Supermarkts zu gehen. Vorne, auf der Bühne, wähnt man sich im Schlaraffenland und hinten, im Backstage-Bereich, im Vorhof einer Müllhalde. Hier stapeln sich Verpackungen, gerade abgelaufene Waren, Obst und Gemüse, die auf den Regalen soeben ihren Widerstand gegen die dort geltenden ästhetischen Kriterien aufgegeben haben, weil sie nicht mehr präsentabel sind: lauter unverkaufte – und noch vollkommen genießbare – Lebensmittel, die weggeworfen werden.
Man muss jedoch nicht gleich die Großverteiler bemühen, ein Blick in die eigenen Kühlschränke genügt. Gebaut als Aufbewahrungsort, sind sie heute eher die Vorstufe zum Müllsack. Da tummeln sich kleine Schüsseln mit leichter Schimmelpatina, verschimmelte Käsereste, abgelaufene Produkte, angebrochene und nicht mehr verwendbare Packungen … Wir werfen viel zu viel weg. Unser Verhältnis zur Gefriertruhe trägt offenkundig atavistische Züge: Wir möchten nie ohne Lebensmittel dastehen. Wir vergraben unser Fleisch im Eis und vergessen es dort oft jahrelang.
Früher war die Kunst der Lebensmittelkonservierung eine Frage des Überlebens, doch seitdem die Technologie diese Aufgabe übernommen hat, sind wir zu zügellosen Müllerzeugern geworden. Die gute alte Schule der Hauswirtschaft ist in unserer Wegwerfgesellschaft nicht mehr gefragt. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass Hauswirtschaft heute nicht mehr gelehrt wird. Als Grund dafür wird die sexuelle Diskriminierung angeführt, weil das Fach vorwiegend an Mädchenschulen unterrichtet wurde. Es war anscheinend einfacher, die Hauswirtschaft gleich ganz abzuschaffen, als sie auch den Jungen beizubringen.
Es ist noch nicht lange her, seit unsere Gesellschaft vom Strudel des Wohlstands erfasst wurde und das Wegwerfprodukt zu ihrem Statussymbol erklärte. Guido Viale, einer der bedeutendsten Experten Italiens zum Thema Müll, erklärte bereits 1994 in seinem grundlegenden Buch »Un mondo usa e getta« [2] das Abdriften unserer modernen Welt in Richtung Müllhalde. Er zitierte als Beispiel eine der »unsichtbaren Städte« Italo Calvinos: »Die Stadt Leonia macht sich jeden Tag neu ... Auf den Bürgersteigen warten, in saubere Plastiksäcke eingehüllt, die Reste des Leonia von gestern auf die Wagen der Müllabfuhr ... Mehr noch als an den Dingen, die tatgtäglich fabriziert, verkauft, gekauft werden, misst sich Leonias Wohlstand an dem, was tagtäglich weggeworfen wird, um Neuem Platz zu machen. So fragt man sich, ob Leonias wahre Leidenschaft auch wirklich, wie gesagt wird, der Genuss neuer und andersgearteter Dinge ist und nicht vielmehr das Abstoßen, Vonsichentfernen, Sichreinigen von einer immer wiederkehrenden Unreinheit.« Leonia wird am Ende von einer aus dem eigenen Abfall bestehenden Lawine verschüttet, die »jegliche Spur der allzeit neugekleideten Metropole verwischen
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