Terra Madre
Industrialisierung der Lebensmittel triumphiert hat, kam es zu Verflachung und Standardisierung. Dies birgt eine große Gefahr für eine der Lebensgrundlagen der Erde: die Biodiversität und die Anpassungsfähigkeit der Lebewesen.
Es geht hier um Schäden biblischen Ausmaßes. Wir haben es zugelassen, dass in weiten Teilen der Welt das, was sich im Lauf von Jahrtausenden geformt und entwickelt hat, innerhalb eines einzigen Jahrhunderts verschwand. Zum Glück ist in vielen Ländern, die diesen riesigen agro-industriellen Boom bislang nicht erlebt haben, noch immer ein ausreichendes Potenzial an Biodiversität vorhanden. Falls sie aber dem Beispiel des Westens folgen, wird die Katastrophe die ganze Welt erfassen. Leider gibt es dafür bereits beunruhigende Hinweise, etwa aus Mexiko, Indien, Brasilien und China, die überaus reich an pflanzlicher Vielfalt und für die Ernährung geeigneter Tierrassen sind. Aber auch in diesen Ländern galoppiert das industrielle Wachstum, wiederholt sich gerade das oben angesprochene Phänomen mit nie da gewesener Schnelligkeit und Zerstörungskraft.
Auch die Böden werden von den industriell erzeugten Lebensmitteln »aufgegessen«. In den letzten Jahren nahm der Einsatz von chemischen Düngemitteln und Pestiziden exponentiell zu. Innerhalb eines Jahrzehnts wurde davon die gleiche Menge in die Erde und in den natürlichen Kreislauf eingebracht wie im gesamten letzten Jahrhundert. Es ist kein Geheimnis, dass diese Mittel, die außerhalb des natürlichen Kreislaufs stehen, langfristig die Fruchtbarkeit der Böden beeinträchtigen und schließlich zerstören. Der Boden ist ein lebendiges Wesen, und wir bringen ihn buchstäblich um. Die industrielle Landwirtschaft spielte mit der Idee, Landwirtschaft ohne Bauern zu betreiben, was aber nichts anderes bedeuten würde, als Landwirtschaft ohne Boden zu betreiben.
Die Umweltschäden, die das globale industrielle Lebensmittelsystem anrichtet, sind so zahlreich und verschiedenartig, dass fast täglich irgendwo Alarm geschlagen wird. Die entsprechenden Berichte erreichen längst nicht mehr nur die sogenannten alternativen Kreise, die sich für biologische Produkte oder für die Umwelt einsetzen, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Das Offensichtliche lässt sich nicht länger leugnen.
Früher war das Land für die Stadtbewohner eine Oase, in die sie vor der Umweltverschmutzung fliehen konnten. Heute droht uns in vielen Gebieten der Erde Gefahr für unsere Gesundheit, vor allem, wenn dort gedüngt oder gegen Schädlinge gespritzt wird. Die Landwirtschaft, deren Grundlage eigentlich die Allianz zwischen Mensch und Natur sein sollte, ist in einen regelrechten Krieg ausgeartet. Und nicht zufällig kommt die gesamte Technologie zur Herstellung von Pestiziden aus der Waffenindustrie. Industrielle Landwirtschaft ist nichts anderes als eine Kriegserklärung an die Erde.
Bisher wurde der Faktor Umweltzerstörung nicht in die Kostenberechnungen der Lebensmittelwirtschaft miteinbezogen. Doch die Summe wächst unaufhaltsam, und natürlich wird dafür die Bevölkerung zur Kasse gebeten. Wir meinen, dass wir für Lebensmittel wenig Geld ausgeben, aber wir zahlen in Wirklichkeit einen hohen, versteckten Preis, sei es unter ökologischen Gesichtspunkten, indem wir die Fähigkeit der Erde, auch in Zukunft Lebensmittel hervorzubringen, gefährden, sei es hinsichtlich unserer Lebensqualität und Gesundheit und indem wir den nachfolgenden Generationen das Grundrecht auf Wohlstand und Glück verwehren. Billige Preise für Lebensmittel schmälern nicht nur deren Wert, sondern beinhalten auch all das, was wir der Erde antun.
Früher oder später wird jemand dafür bezahlen müssen. Am Ende wird es genau jene »Konsumenten« treffen, die heute ein gutes Geschäft zu machen glauben, wenn sie wenig für ihr Essen ausgeben.
Die Lebensmittel essen die Bauern auf
Die Industrialisierung der Lebensmittel hat nicht nur der Umwelt und der Natur schweren Schaden zugefügt, sondern auch riesige Erschütterungen im sozialen Gefüge ausgelöst, die sich vom Land in die Stadt, in die modernen Megalopolen, fortgesetzt haben.
Die Landflucht, die in Europa und den Vereinigten Staaten in der Nachkriegszeit einsetzte, hat sich inzwischen überall dort, wo die Landwirtschaft industrialisiert wurde, ausgebreitet. In den westlichen Ländern war vor 50 Jahren noch die Hälfte aller Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt, heute sind es nur noch zwei bis sieben Prozent. Im
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