Terra Mater
leuchtende Krone trug sie, und sie hatte keinen Puder aufgelegt, während ihre Begleiterin sich, den Regeln folgend, umgezogen und geschminkt hatte, auch wenn sie das nicht schöner machte.
Unzählige Licht-Kugeln schwebten unter der mit Fresken bemalten Stuckdecke. Hinter den Säulen und in den Seitengängen herrschte reger Betrieb. Diener in weißer Livree kümmerten sich trotz der späten Stunde noch immer um die Höflinge, die bis zur Morgendämmerung den Palast heimsuchten, als wäre es nicht genug, auf Kosten des Reichs zu
leben. Nein, sie trieben ihre Schamlosigkeit so weit, sich auch noch vom Schlaf und den Träumen des Imperators Menati nähren zu wollen.
Dame Sibrit gönnte ihnen nicht einen Blick. Früher einmal hatte sie ein gewisses Vergnügen daran gefunden, diese Schmarotzer gegeneinander auszuspielen. Doch das belustigte sie schon längst nicht mehr. Sie hasste die Hofschranzen nicht einmal. Für sie waren diese Leute nichts anderes als Ektoplasmen, holographische Bilder in einem Dekor, Gespenster in einem Palast, die sich in ihrer vieldeutigen Sprache und ihren verlogenen Gesten verloren. Sie hielten sich für die Elite des Imperiums; sie glaubten, Geschichte zu machen, und suchten die Nähe des Herrschers, um sich in seinem Glanz zu sonnen – doch sie folgten nur einer sinnentleerten Etikette, die ihre innere Leere widerspiegelte. So wie die Pracht des Palastes ein Spiegelbild ihrer maßlosen Eitelkeit war. Sie waren derart mit dem Schein beschäftigt, dass sie darüber das Sein vergessen hatten. Sie waren so fern der Realität, dass sie nie merkten, was sich in den Palästen des Imperators und des einstigen Seigneurs Ferkti Ang anbahnte.
Ein grauenhafter Traum hatte Dame Sibrit geweckt und in ihr den Entschluss reifen lassen, ihrem erhabenen Gemahl zu nächtlicher Stunde einen unerwarteten Besuch abzustatten. Denn sie wusste, dass dieser Traum nichts als die Vision der Wahrheit war. Einer schrecklichen Wahrheit.
Schon seit zwölf Jahren besuchte eine Märchengestalt aus ihrer in der Provinz Ma-Jahi gelebten Kindheit sie während des Schlafs: Wal-Hua, der kleine Tigerbär mit einem Pelz aus rosa Optalium, smaragdgrünen Augen und diamantenen Krallen war zum stets anwesenden Führer in ihrem Unterbewusstsein geworden. Er öffnete ihr alle geheimen
Pforten, wenn sie die dahinterliegenden Räume besuchen wollte.
In letzter Zeit wurden immer häufiger diejenigen Pforten geöffnet, die den Anblick einer Frau, eines Mannes und eines kleinen Mädchens freigaben. Sie lebten auf einem kleinen blauen Planeten am Rande des Alls, in der Nähe eines Bergmassivs, in einem Dorf, das man rings um einen Busch mit glänzenden Blüten errichtet hatte. Doch nur ihr Haus war bewohnt, alle anderen waren verlassen.
Offensichtlich interessierte sich Wal-Hua für ihre Geschichte. Dame Sibrit kannte diese drei Personen nicht. Sie wirkten wie die mythischen Helden aus dem großen Licht-Buch Chevalier von Etoiles, aber sie hatte das untrügliche Gefühl, sie seien lebendig und würden sich in derselben Raum-Zeit wie sie bewegen. Sie schienen jemanden zu erwarten, vielleicht die Rückkehr eines Sohns.
Das kleine Mädchen hatte einen seltsamen Ausdruck in den Augen, einen Blick, der das Universum umfasste. Sie pflegte vor diesem leuchtenden Busch zu knien und die Sterne zu zählen, die Tag für Tag in der Unendlichkeit des Universums erloschen. Der Mann und die Frau indessen stiegen auf den Berg, setzten sich auf einen Felsen und verharrten dort lange Stunden schweigend und unbeweglich … Was taten sie dort? Was suchten sie?
Von Neugier getrieben hatte Wal-Hua versucht, in ihr Denken einzudringen, um mehr zu erfahren, aber ein brennender Ton, eine unerträgliche Vibration hatte ihn zum Rückzug gezwungen.
Seit einigen Monaten jedoch manifestierte sich der kleine Tigerbär nur noch sporadisch in den Träumen der Kaiserin. Ohne ihren Führer bewegten sie sich in alle Richtungen.
So hatte sie den jungen Marti de Kervaleur gesehen – obwohl
sie versucht hatte, die Eltern vor den verbotenen Machenschaften ihres Sohnes zu warnen, denn diese Familie gehörte zu den wenigen Adeligen, die sie schätzte –, wie er durch die dunklen schmutzigen Röhren einer Stadt im Weltraum kroch. Sie hatte einen kleinen Jungen gesehen, der auf magische Weise ein Rudel wilder Tiere zähmte, und einen Massenaufstand in einer Zeltstadt. Sie hatte ebenfalls ein geheimes Treffen eines jungen Kardinals mit Vikaren in einem finsteren Keller
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