Terra Mater
Neid. Als sie vor zwanzig Jahren als Fünfundvierzigjährige auf die Insel verbannt wurde, war sie kräftig und durchtrainiert. Doch jetzt, als sie sah, wie Oniki immer höher stieg und bald darauf nicht mehr zu erkennen war, verfluchte sie ihr Alter.
Die Verbannten waren ratlos. Sie warteten stundenlang am Fuß des Stützpfeilers und beobachteten die hinunterfallenden Flechten, die eine Zeit lang auf dem Meer schwammen, ehe sie, mit Wasser vollgesogen, untergingen.
Während Onikis Ausflügen in die Korallen stand das Leben auf der Insel still. Ihr Wiedererscheinen wurde mit Seufzern der Erleichterung begrüßt. Etwa zehn Meter über dem Wasserspiegel hielt sie inne und betrachtete ihre Leidensgefährten. Die junge Frau lächelte ihnen zu, und erst dann nahmen sie alle wieder die Arbeit auf. Doch da sie so spät damit begonnen hatten, wurde nichts Rechtes mehr daraus.
Trotz ihrer bevorstehenden Niederkunft kletterte Oniki die letzten Meter mit erstaunlicher Behändigkeit den Pfeiler hinunter. Danach badete sie im Meer, um sich von Schweiß und Staub zu befreien. Sie genoss dieses Bad im kalten Wasser, obwohl das Salz in ihren Schürfwunden brannte. Es erinnerte sie an die Dusche im Kloster der Thutalinen nach getaner Arbeit.
Am Strand, umringt von ihrer persönlichen Eskorte der Verrückten, die sie nie aus den Augen ließen – trocknete sie sich ab und legte ihr graues Gewand wieder an.
Soji hatte am Fuß der Felsen auf sie gewartet. Die Meeresbrise
fuhr durch ihr graues Haar und ihr Kleid aus gewobenen Algen.
»Wie weit bist du?«, fragte sie mit brennendem Blick.
»Ich komme gut voran«, antwortete Oniki.
»In welchem Zustand ist die Orgelpfeife?«
»Sie wird immer größer … So groß wie Opus Dei, die größte Pfeife im Orgelwerk Koralions …«
»Siehst du schon Licht?«
»Noch nicht.«
Soji ließ den Blick über die auf den Wellen treibenden Farne schweifen, die wie ein schwimmender Teppich das Wasser bedeckten. »Und die Schlangen?«, fragte sie.
»Ein paar habe ich gesehen. Sie sind viel größer als die in den Orgelwerken Koralions.«
»Du hast sie gesehen? Das heißt also, du arbeitest weiter, wenn du ihre Nähe spürst?«
Oniki beantwortete die Frage nicht. Ja, sie riss weiter die das Röhrenwerk verstopfenden Farne aus. Aber sie wollte die alte Thutalin nicht beunruhigen. Nur wenige Zentimeter vor ihr tauchten regelmäßig die dreieckigen Köpfe mit den grünen, funkelnden Augen auf, aber die großen Reptilien verschwanden bald wieder im Korallenwald. Und am Rasseln ihrer geschuppten Schwänze hörte sie, dass es um sie herum von Schlangen wimmelte.
»Du solltest vor der Geburt deines Kindes nicht mehr klettern«, sagte Soji.
»Es wird im Licht geboren werden«, entgegnete Oniki.
Die alte Thutalin schüttelt den Kopf. »Wenn ich nicht irre, wirst du in weniger als einer Woche niederkommen. Ruh dich in deiner Grotte aus.«
Obwohl Oniki erschöpft war, wollte sie nicht in ihrer Grotte eingesperrt sein, vor deren Eingang immer die Verrückten
über sie wachten. So frei und glücklich sie sich in der Höhe des Korallenwaldes fühlte, so bedrückend waren ihre Gedanken, wenn sie auf ihrem Lager aus getrockneten Algen ruhte. Sie konnte kaum noch schlafen. Einerseits bewegte sich das Kind in ihrem Bauch immer heftiger, andererseits wurde sie von dunklen Vorahnungen heimgesucht.
Irgendwo, weit von der Insel Pzalion entfernt, war ihr Prinz in Gefahr. Sobald sie sich zugedeckt hatte, breitete sich eine unerträgliche Kälte in ihrem Körper aus – eine unbeschreibbare, bösartige Kälte aus einer anderen Welt, die ihr ganzes Sein angriff und ihre Seele bedrohte.
So litt sie mit ihrem Prinzen. Sie wusste, dass er sie nicht verlassen hatte, dass er nur gegangen war, um mit einem fürchterlichen Gegner zu kämpfen, und dass er nicht sicher war, diesen Kampf zu gewinnen.
Und intuitiv begriff Oniki, dass der Ausgang dieses Kampfes mit ihrem Bemühen, das Licht der beiden Gestirne Tau Xir und Xati Mu über der Insel Pzalion leuchten zu lassen, in direkter Verbindung stand.
Ein verrückter Gedanke! Auf der einen Seite ging es um die gesamte Existenz der Menschheit, während sie die Lebensumstände einer Handvoll Verbannter zu verbessern trachtete. Sie glaubte, dass ihr Prinz dieses Licht brauchen würde, auch wenn es nur ein winziger Beitrag in diesem Kampf war.
Sie lag da und zitterte vor Angst, während Tränen aus ihren Augen rannen, die Hände auf ihren Bauch gelegt, um das kleine, in
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