Terroir
ihrem Alkoholgehalt, dass auch die zweite und dritte Flasche zur angeregten Kommunikation, zum freundschaftlichen Disput und zum Erspinnen neuer und immer verrückterer Ideen verführt.
Und wenn die Götter des Weins so richtig in Fahrt geraten …
Do not be alarmed if, late at night,
a bottle of our wine starts talking to you.
This is quite natural and indicates
that you have inexplicably stumbled
upon a higher plane of learning,
schreibt Bruce Jack, der fantasiebegabte winemaker der Flagstone Winery in der Nähe von Kapstadt in Südafrika. „Open your mind“, sagt der studierte Literaturwissenschaftler, der gerade zum Winzer des Jahres gewählt wurde. Also etwas ganz anderes als das, was üblicherweise in der Winzer- oder Sommelierausbildung gelehrt wird. Hier wird der mind nicht geopent, sondern geformt. So wie die Missionare fremden Kulturen das Christentum übergestülpt haben, werden Studentinnen und Studenten trainiert, die „objektiv richtigen“ inneren Haltungen bei der Beschreibung eines Weins zu verinnerlichen, um nur ja auch das „Richtige“ herauszuschmecken.
Das seit seiner Entwicklung an der kalifornischen University of Davis Ende der 80 er-Jahre heute überall in der Welt so populäre Aromenrad für Wein ist ein typisches Beispiel. Hier sind in grafisch ansprechender Form auf einer Pappscheibe auf verschiedenen Kuchenstücken gut hundert Weinaromen, nach Gruppen sortiert, aufgetragen. Der Proband soll nun lernen, die richtigen Aromen des Weins zu definieren, indem er die einzelnen Gruppen gedanklich abfragt und deduktiv so lange in Untergruppen sucht, bis etwa in der Gruppe der Früchte, Unterabteilung Beerenfrüchte, die Himbeere eindeutig identifiziert und als Aromenbestandteil des zu beschreibenden Weins definiert ist. Dann sucht man in der Rubrik Gewürze nach Nelken, Pfeffer und Konsorten und danach in den anderen Abteilungen. So entsteht ein „objektives“ Aromenprofil. Die wissenschaftliche Haltung den Schülern als eine Form der Begegnung mit Wein nahezubringen ist richtig und wichtig, schließlich müssen sie in einer derart strukturierten Weinwirtschaft überleben. Aber diese Haltung als die einzig richtige zu postulieren, kastriert den Wein und beraubt ihn jeglicher emanzipatorischer Funktion. Wer Wein nur „objektiv“ richtig verkosten kann, kommt über den Mein-Ich-ist-dann-mal-kurz-weg-Rausch nicht hinaus. Und die Götter des Weins grollen …
Die wirklichen Könner dieser Art von Weinbeschreibung haben natürlich noch wesentlich mehr Aromen in petto, als das Aromenrad vorgibt. Die komplette Weinbeschreibung des Spätburgunders aus der Lage Merdinger Bühl liest sich dann zum Beispiel so: Fruchtige Aromen: Himbeere, schwarze Johannisbeere, Pflaume, Erdbeere, Brombeere, Feige, Kirsche, Granatapfel, Bittermandel, Walnusshaut. Dann die pflanzlichen Aromen: Holunderholz, Rote Bete, Heu, altes Laub, Waldpilze, Unterholz. Bei den Gewürzen: Wachholder, schwarzer Pfeffer, Zimt, Gewürznelke, Lebkuchengewürz, Lorbeer. Und zu guter Letzt unter der Rubrik Verschiedenes: Holzrauch, Leder, erdig, Karamell, Kakao und Kamin. Das waren jetzt allerdings nur die wichtigsten, quasi die Leitaromen. Darüber hinaus hat Guy Bonnefoit, der Grandseigneur der deutschen Sommelierszene, noch sechzig weitere Nebenaromen erschnüffelt. Nur, und das zeigt den wahren Meister, hat Herr Bonnefoit überhaupt keine Probleme damit, wenn jemand sagt, er könne mit den Aromen nicht viel anfangen, für ihn höre sich der Wein wie die Jupiter-Sinfonie an, oder wenn ein anderer sagt, dass ihn der Wein an die Pilgerkapelle von Altötting oder den Frühstückstisch seiner Großmutter erinnere.
Wenn wir dem Wein erlauben, unsere Fantasie zu beflügeln, dann können solche Ratespiele großen Spaß machen. Stellen wir uns einmal vor, der Wein wäre eine Frucht. Welche Frucht wäre er? Stellen wir uns einmal vor, der Wein wäre ein Musikstück, ein Tier, eine Architekturform, eine Farbe … Solche Spiele enden gern in einem Rausch. Aber in einem nach vorn gerichteten, schönen Ich-bin-kreativ-und-kann-was-Rausch. Von wegen das Bewusstsein ausknipsen. Hier kommt es so richtig in Fahrt!
Nach einem Glas Wein werden etliche eher brenzlige Situationen viel lockerer gemeistert. Da ist dann manche Hürde gar nicht mehr so hoch, so manches Statement gar nicht mehr so unangenehm undpeinlich. Neben dem depressiven, infantilen Mein-Ich-ist-dann-mal-kurz-weg-Rausch hinterlässt der jugendlich-kraftstrotzende
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