Terroir
Bedeutung hatte, nicht ewig berechtigt ist.
Dass irgendwelche moralinsauren oder vor ihren eigenen Gefühlen davonlaufenden Zeitgenossen gegen Weingenuss poltern, ist allzu menschlich und nachvollziehbar. Gleiches gilt für Menschen, die unter Alkoholikern zu leiden haben. Aber Wein zu verteufeln mit dem Argument, er habe den Menschen das Bewusstsein, das psychologische Ich gebracht – da fällt einem nichts mehr ein.
Oder doch. Da fällt einem ein, dass sich aus dem Verteufeln des Individualismus und dem Propagieren der Gruppenseele auch ganz schnell ein (nationalsozialistisches) Propagieren der Volksseele entwickeln kann. Gerade wenn man bei Rudolf Steiner in einer Buchbesprechung von 1888 lesen kann: „Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten.“
Dass die Sehnsucht nach Spiritualität so weit geht, jemanden wie Rudolf Steiner zum Guru der Avantgarde des Weinbaus zu küren und die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise als den dernier cri … Da bleibt einem der dernier cri im Halse stecken.
Und damit es keinen Fall für den Staatsanwalt gibt, ist das auch gut so. Ein großer Schluck Wein muss jetzt her. Am besten einer, der rot und tief und schwer ist, ja, ein muttermilchiger, warmer Syrahvon Robert O’Callaghan von der Rockford Winery im australischen Barossa Valley. Prosit, Robert, das tut gut! Wenn nur alle Kollegen so wären wie du. Lustig. Sprüche drauf, wie verrückt. Storys erzählen, auch wenn nicht immer alles so stimmt, aber du stammst ja aus Irland. Und die Iren dürfen Geschichten erzählen.
Wenn es ja nur die Dummen und alte Nazis wären, die sich heute biologisch-dynamisch nennen. Aber nein, es sind auch die intelligenten, die sympathischen, die Vordenker. Haben die noch nie was von Steiner gelesen? Vorzeigeweingüter aufgeklärter Zeitgenossen nennen sich biodyn? Hier wird doch der Bock zum Gärtner gemacht!
Nein, das kann doch nicht wahr sein. Robert, gib mir noch einen Schluck vom Hoffmann, von deiner Parzelle ganz im Norden, direkt am Rand der Wüste. Das ist Australien! Noch mal einen großen Schluck. Und noch einen. Die Flasche ist bald leer. Und mein Ich ist dann mal kurz weg.
Vielleicht liefern ja in ein paar Jahren die momentan mit viel Geld und Forscherdrang ausgestatteten Neurophysiologen Erklärungsmuster, wie das menschliche Gehirn von unterschiedlichen Weinen an welchen Stellen und wie angeregt wird. Spätlesen aus der Wehlener Sonnenuhr lassen vielleicht ein paar Hundert Neuronen im Gammafrequenzband mit 45 Hertz schwingen, um sich beim Erdener Prälaten auf 56 Hertz zu steigern …
Ein sehr schönes Bild ist auch das Bohr’sche Atommodell mit seinen Elektronen, die auf bestimmten Bahnen um den Kern flitzen. Mit einem Glas guten Champagner, vielleicht von Bruno Paillard, bekommen die Elektronen immer mehr Drive und schwingen mit immer höherer Frequenz. Und ab und zu traut sich ein Elektron, besonders wenn die Energie aus einer der grandiosen Jahrgangscuvées stammt, diesem teuflisch guten Zeug aus transformierten Kalkböden, die angestammte Hülle zu verlassen, und erkundet in größerer Distanz von den Anziehungskräften des Kerns neue Dimensionen von Freiheit.
„Alle großen Geister haben gesoffen“, sagt der Volksmund. Was natürlich so nicht stimmt. Die englischen Forscher des 20 . Jahrhunderts standen zum Beispiel auf Lachgas, und Computerjunkies haben es auch eher mit anderen Drogen. Und außerdem, was heißt hier gesoffen? Wein war Muse! Von Lessing, Lichtenberg, Schiller, Goethe, Jean Paul, Beethoven, E. T. A. Hoffmann, Schubert, Heine, Hebbel über Richard Wagner, Johannes Brahms, Gottfried Keller und Wilhelm Busch bis hin zu Stefan George, Hermann Hesse und Joachim Ringelnatz. Die Gedichte, Bonmots und weinigen Episoden allein der deutschsprachigen Dichter, Denker und Musiker füllen Bände. Die „produktiv machenden Kräfte sehr bedeutender Art“ (Goethe) wirken im Job und in der Freizeit, in der Industrie und in der Kunst. Gibt es ein Getränk, das den Geist mehr anregt als ein gutes Glas Wein? Bier macht irgendwann müde, Schnaps aggressiv. Aber in geselliger Runde eine 1983 er Spätlese Saarburger Rausch von Zilliken und danach eine 1990 er Oberemmeler Hütte vom Weingut von Hövel – diese zarten, atmosphärischen Weine beflügeln den Geist. Sie sind so dezent in
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